Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Die Sonate

Die "klassische" Sonate ist das Rückgrat und Herzstück der Klaviermusik in der 2. Hälfte des 18. Jhdts.. Nochmals: alles, was wir in der Schule zum Thema Sonatensatz gelernt haben, ist willkürlich und falsch und basiert, wenn überhaupt, auf der spätklassischen Sonate, als diese Form schon im Niedergang war und als "Zwangsjacke" für angehende Komponisten angesehen wurde. ("Schreibe erst einmal ordentliche Sonaten, dann wirst du auch ein berühmter Komponist". Die Ergebnisse hört man dann bei Schumann, Brahms, Chopin etc. und leider auch deutlich bei Schubert).

Woraus besteht eine Sonate: meist aus drei Sätzen, der erste mit Exposition, Durchführung, Reprise; der zweite in der Sub- oder Dominante, manchmal auch in Moll, vor allem aber langsamer; der dritte ist leichter geschürzt, gegebenenfalls ein Rondo. Ersparen Sie mir bitte eine Aufzählung aller Ausnahmen. So, lieber Leser, das war es.

Exkurs: D.G. Türk Clavierschule 1789: "je mehr aber eine Sonate Ausdruck hat, je mehr man den Tonsetzer gleichsam in Tönen sprechen hört, je mehr der Komponist alltägliche Wendungen zu vermeiden weiß etc. je vortrefflicher ist die Sonate." Norddeutsche Musikästhetik pur, kein Wunder, Türk ist Enkelschüler Bachs. Ich empfehle, sich ab und zu Sonaten unter diesen Gesichtspunkten anzuhören oder zu spielen.

Eine Frage ist leider noch nicht eingehend untersucht worden: für wen wurden Sonaten geschrieben?

Die Sachlage ist aus der Literatur sehr eindeutig. Bis einschließlich Haydn und Mozart werden Sonaten für Liebhaber, Schüler und vielleicht auch für Kenner verfasst, und eben nicht für den im Konzert vortragenden Virtuosen. Der nicht komponierende Liebhaber sollte Spielmaterial zur eigenen "Gemütsergötzung" in die Hand bekommen. Folglich musste sich der Komponist zwangsläufig auf die technischen Fähigkeiten der Liebhaber einstellen, die wahrscheinlich genauso wenig wie heute Lust hatten, endlos an einem Stück zu üben, um es wenigstens technisch bewältigen zu können - von der Interpretation ganz zu schweigen. Bekanntlich haben Liebhaber meist einen noch zeitraubenden Hauptberuf, auch damals. Es erscheint mir symptomatisch, dass einer der wichtigsten Beethoven Schüler, nämlich Czerny, sein Leben damit verbrachte, Etüden zu schreiben, damit die Beethoven Sonaten mechanisch- technisch bewältigt werden können. Mit Begeisterung ist wohl noch niemand an dieses Geschreibsel herangegangen.

Zumindest haben die technischen Schwierigkeiten im 19. Jhdt. rasant zugenommen, eigentlich bis heute, wenn man sich die Liste der "einmaligen" Virtuosen vor Augen führt. Bei der Oper war diese Entwicklung schon im 18. Jhdt. zu beobachten.

Jeder Komponist stand vor der schwierigen Aufgabe, entweder für einen definierten Kundenkreis zu schreiben, oder für jeden etwas zu bringen. Beispiel: für den Liebhaber - Hörer mit Genuss am Virtuosem, den Liebhaber - Kenner, ohne allzu große Technik, etc... Die Ergebnisse dieser Kompositionsaufgaben müssen zwangsläufig, unabhängig vom Können des Komponisten, unterschiedlich ausfallen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Komponisten vom Verkauf ihrer Werke leben mussten. Ihre Stellungen bei Hofe oder in der Kirche waren nicht so üppig dotiert, und vor allem mit Unwägbarkeiten behaftet. Sicherlich bestand der Kundenkreis im 18. Jhdt. genauso wie heute mehrheitlich aus Liebhabern, die mehr oder weniger ein Instrument beherrschten. Für  technisch und musikalisch Minderqualifizierte gab es dann die "Sonates faites pour les dames" ( Emanzen, Verzeihung), die sich schön und gefällig anhören; technisch und musikalisch anspruchslos, ein echter Zeitvertreib. Der Bedarf muss enorm gross gewesen sein, wen wundert es.

Anders wiederum ist es um die Kenner bestellt. Diese konnten, mussten jedoch nicht ein Instrumentalprofi sein. Auf jeden Fall kannten sie die Regeln, erfreuten sich an harmonisch heiklen Passagen und Überraschungen (nur wer die Regeln kennt, kann überrascht werden, und dieses auch verstandesgemäß nachvollziehen). Sicherlich genossen die Kenner auch kleinere technische Sauereien, soweit sie sich in Grenzen hielten.

Wo bleibt nun "er soll nicht spielen wie ein abgerichteter Vogel, sondern das Herz rühren"? Ja, lieber Carl-Philipp, du warst ein sehr guter Verkäufer. Nur, wem nach Durchlesen des "Versuchs" mit allen seinen sehr sinnvoll aufgebauten Regeln incl. Anleitung eine Fantasie zu komponieren noch das Herz gerührt ist, kommt in die Nähe eines Schwindlers oder Selbstbetrügers. Der "Versuch" ist unter anderem ein rationales Lehrbuch, menschliche Gefühle in Tönen spielerisch auszudrücken, nicht hingegen unqualifiziert gefühlsmäßig vor sich hin zu dudeln. Das hieße nun wirklich, Rationalismus und Aufklärung auf den Kopf zu stellen.

Warum werden in den heutigen Konzerten so wenig CPE Bach, Haydn und Mozart Sonaten aufgeführt (die Namen nur als Beispiele)? Eine Antwort liegt klar auf der Hand: die meisten dieser Sonaten sind entweder für Liebhaber oder Kenner, auf jeden Fall nicht für Virtuosen geschrieben. Vor allem: kein Komponist im 18. Jhdt. hatte die Absicht, speziell für Hörer zu schreiben. Der Hörer saß im Konzert, dort wurden Konzerte, Sinfonien aber auch Gesangsstücke dargeboten.

Nur wenige dieser Solostücke setzen einen Profi voraus. Damit sind diese Sonaten bei den "einmaligen" Instrumentallöwen nicht so gerne gesehen. Deren technische Kunstfertigkeiten kommen viel besser bei Liszt, Chopin auch bei Beethoven zur Geltung. Der heutige Hörer ist davon entwöhnt, auf musikalische Feinheiten zu achten, vielleicht will er sie auch gar nicht in öffentlichen Konzerten hören: geschliffene, musikalisch teilweise schwierige Rationalität gegen hochvirtuose Gefühlsbombastik! Die großen Säle und die entsprechenden Instrumente tun ihr übriges.

Wie aus dem Vorausgegangenen zu ersehen, müssen virtuose Vortragssonaten andere Bedingungen erfüllen als Spielersonaten für Kenner und/oder Liebhaber. Damit ist klar, eine Vortragssonate muss umfangreicher in allen Sätzen werden, um zumindest eine gewisse musikalische Substanz mit virtuosen Einlagen zu verbinden. Eine genauere Untersuchung hierüber würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Als kurzes Beispiel: die Tendenz zur Erweiterung der Sonatensätze setzt schon bei Beethoven ein. Dessen Erweiterungen (Seitensätze, Durchführungen, Codas) tragen den Keim virtuoser Zurschaustellung.

Die "Musikkritik" wirft nun CPE Bach, Haydn und Mozart teilweise die kurzen Sätze, vornehmlich Schlusssätze vor. Wahrscheinlich sind alle diese Kritiker Virtuosen. Im übrigen habe ich noch nie eine Sonate dieser Kritiker gehört, es ist wahrscheinlich besser so.

Gerade diese Verlängerung der Sonatensätze hat bei den Musikwissenschaftlern normative Kraft gewonnen, aus der dann die DIN-Norm des klassischen Sonatensatzes hergeleitet wird, mit der Folge, dass CPE Bach und Haydn diese Gattung noch nicht so beherrscht haben. Aber: ein nicht zu kleiner Prozentsatz dieser Satzverlängerungen geht auf Einführung von hochvirtuosem "Spielmaterial" und Codas zurück. Akkordbrechungen über mehrere Takte (möglichst in der linken Hand), gebrochene Oktaven (möglichst rechts) auch über viele Takte, geballte vollgriffige Akkorde in weiten Lagen zählen zum Standardarsenal dieser Sonaten (der Albertibass lässt herzlich grüssen). Gewinn an musikalischer Substanz ist hingegen damit nicht verbunden. Diese Vorgehensweise soll ja nicht schlecht gemacht werden, die Musik klingt gut und lässt sich vorteilhaft verkaufen, aber eine Qualitätsnorm sollte daraus nicht erwachsen. Sonst landen wir zwangsläufig bei der Behauptung, dass Lizst der Höhepunkt abendländischer Klaviermusik sein muss, nach dem Motto: je virtuoser desto qualitativer.

Hand auf das Herz: wer war als Klavierschüler nicht stolz, die erste wirkliche Beethovensonate spielen zu dürfen (bitte nicht op. 49 1+2, die zählen bekanntlich nicht). Mit großem Elan wurde herangegangen, der Katzenjammer folgte alsbald. Wochenlang quälte man sich Seite für Seite, Sicherheit in der Technik war nicht zu erreichen, mal klappte es mal nicht, von Interpretation keine Rede. Der Klavierlehrer im Hintergrund: "hättest du deinen Czerny..." - es war grauenvoll. Irgendwann durfte diese Sonate in einem Schülerkonzert vorgetragen werden. Ein Genuss für Spieler und Hörer wird es nicht gewesen sein.

Randbemerkung: jeder Klavierlehrer sollte möglichst früh herausbekommen, ob sein begabter Schüler Profi werden will oder nicht. Falls ja, müsste diesem klargemacht werden, dass viel Üben angesagt ist, mit den entsprechenden Etüden und Fingerübungen. Dieser Schüler ist dann auch in der Lage, für sich und die Umwelt zufriedenstellend Beethoven, Chopin, Brahms, Liszt, Scriabin etc. zu interpretieren. Dem Nichtprofi ist hingegen klar zu machen, dass die meisten Werke o.a. Komponisten für ihn technisch nicht erreichbar sind. Durch Unterricht in Generalbass, Formenlehre, Kontrapunkt und Musikanalyse wird aus ihm ein Kenner, oder er bleibt Liebhaber, was ja auch gut ist.

Damit schließt sich der Kreis: die Musik der 2. Hälfte des 18. Jhdts würde durch Anwendung dieser Empfehlung sehr viel mehr zur Geltung gelangen - auch zur Zufriedenheit der Noten- und Tonträgerverlage, eben Musik für Kenner und Liebhaber.