Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Die Clavierwerke Christoph Graupners

Graupner, Zeitgenosse JS Bachs, Mitbewerber 1723 um die Nachfolge Kuhnaus im Thomaskantorat, stand jahrzehntelang als Hofkapellmeister in Darmstadt bei den Landgrafen von Hessen im Dienst. Diese schätzten ihn hoch ein, und ließen ihn nicht ziehen.

Er wurde 1683 in Kirchberg/ Sachsen geboren, war Schüler Schelles und Kuhnaus in Leipzig, und wurde 1707 Cembalist an der Hamburger Oper. Zusammen mit Keiser produzierte er dort 5 Opern. 1709 berief ihn der hessische Landgraf Ernst Ludwig zum Vize- Kapellmeister nach Darmstadt. Graupner war ausgebildeter Klavierspieler; er hat sein Instrument reichlich bedacht.

Ein kleiner Teil der Klavierwerke Graupners, nämlich die "Monatlichen Klavierfrüchte" und 3 Partien wurden bis 1935 neu herausgebracht und somit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. 1954 wurden 8 weitere Partien durch Lothar Hoffmann Erbrecht im Druck herausgegeben, der sich auch inhaltlich mit den Klavierwerken Graupners beschäftigte. Danach herrschte für längere Zeit "Sendepause", bis sich wiederum Hoffmann Erbrecht 1987 der Klavierwerke Graupners annahm. 1993 erfolgte ein "Durchbruch": die in Darmstadt liegenden 17 handschriftlichen Suiten wurden im Faksimile durch Oswald Bill publiziert. Es folgten der "Winter" 1994 sowie die "Monatlichen Clavierfrüche" 2004ff.. Ein beachtlicher Teil der Clavierwerke Graupners liegt nun öffentlich vor. Besonders erfreulich ist es, dass seit 2002 das Clavierwerk Graupners sukzessive auf Tonträger gebrannt wird. Es ist an der Zeit, sich mit diesem Material neu zu beschäftigen.

Vorab: Es scheint eine unausrottbare Leidenschaft der Musikwissenschaft zu sein zu vergleichen. Im Falle der Klavierwerke Graupners werden, wen wundert es, die Klavierwerke JS Bachs herangezogen. Das Ergebnis ist vorhersehbar: schön und ordentlich, einige beachtliche Ansätze, aber... Der spielende und hörende Liebhaber will das gar nicht wissen. Übrigens, auch er kennt "seinen" JS Bach. Er will wissen, was sich aus der Zeit zu spielen und hören lohnt, gerade neben Bach, der nun wirklich gut bekannt ist. Hier eröffnet das Klavierwerk Graupners ein lohnendes Feld.

Zur "leidigen" Spieltechnik (nur-Hörer bitte überlesen): Wie zu erwarten, bietet Graupner eine Palette von Schwierigkeitsgraden, von leichten bis zu sehr schwierigen Stücken, denen nur mit hartnäckigem Üben beizukommen ist. Die von Graupner selbst veröffentlichten Werke halten sich technisch gesehen im Rahmen. Eine verständliche Maßnahme, wollte er doch die Werke gewinnbringend verkaufen. Nicht-Berufsmusiker, also die "Liebhaber" waren damals schon in Überzahl. Die "dicken Brocken" sind unter den 17 handschriftlichen Suiten zu finden. Für diese Suiten könnte folgender "Leitsatz" aufgestellt werden: steht eine Ouvertüre zu Beginn, wird es schwieriger; vermehrtes Üben ist bei Anwesenheit einer Chaconne angesagt. Aber auch in diesen Suiten bietet nicht jeder Satz die großen technischen Probleme. Technischer Höhepunkt ist sicherlich die Suite in A-Dur, GWV 149, mit Ouvertüre und Chaconne.

Zur "leidigen" Instrumentenfrage: Fern von jedem Dogmatismus sei angemerkt, dass jedes Tasteninstrument, also Clavichord, Cembalo oder Klavier infrage kommt. Der Fall, dass einem Spieler alle 3 Gattungen zur Verfügung stehen, dürfte nicht allzu häufig vorkommen. In diesem Falle, wie beim Kauf einer CD, entscheidet sowieso der persönliche Geschmack.  Der Genauigkeit halber sei angeführt, dass einige Suiten (GWV 109, 126, 143) piano/forte Eintragungen vorweisen, die ein zwei-manualiges Cembalo voraussetzen. Für dieses Instrument sprechen auch die Chaconnen. Es ist bekannt, dass in Darmstadt mehrere Cembali von Christian Vater standen, also Instrumente des norddeutschen Typs, vielleicht mit 16´?

Erster Zugang und Überblick: Der Kauf der vorhandenen Cembalo-CD´s (zur Zeit der Abfassung dieses Textes gibt es derer sieben, übrigens vorzüglich interpretiert) erleichtert ungemein den Zugang zum Clavierwerk Graupners und verschafft einen guten Überblick. Vergessen wir es nicht: wir betreten "Neuland". Die Klavierwerke Bachs, Händels, Scarlattis, der Franzosen sind gedruckt und gepresst schon seit längerem erhältlich, bei Graupner herrschte Fehlanzeige. Spätestens beim Anhören der Suite in A-Dur, GWV 149, wird nach der Chaconne der Ausruf getätigt "das kann doch nicht wahr sein" -  und, wir haben etwas großartig Neues entdeckt. Zwei Tropfen Essig sollten jedoch in den vorzüglichen Wein gekippt werden: Graupner war eine "einseitige Begabung". Sein Klavierwerk besteht zu über 90% aus Suiten oder Suitensätzen. Wer sich auf der Suche nach Präludien, Fugen, Toccaten oder Sonaten befindet, wird nach derzeitigem Stand der Forschung nicht bedient werden können. Zweitens: nicht alle Stücke Graupners überzeugen, aber bei welchem Komponisten trifft das schon zu.

Vom Reiz des Überlieferten: Lassen wir uns nicht täuschen, Graupner war kein musikalischer Revolutionär. Weder hat er neue Formen oder Gattungen gesucht noch gefunden. Seine Allemanden, Couranten, Chaconnen bleiben das, was sie sind. Natürlich erweitert er die Suite mit zusätzlichen "Galanterien", für einige von ihnen entwickelt er besondere Vorlieben, wie Gavotten/Bourrees in Rondoform, sie sind ihm auch sehr prägnant und gut gelungen. Natürlich nutzt Graupner die ungeheure Schlusswirkung einer Chaconne weidlich aus, sie sind alle von bester Machart. Graupner hat seine musikalische Laufbahn als Cembalist in Hamburg begonnen, er kennt "sein" Instrument, seine Spieler und Hörer. Seine Musik ist handwerklich sehr sauber gearbeitet, seine Einfälle sind meist auf einem hohen Niveau, seine Technik kann virtuos sein, selten "intrikat", er stimmt freudig, nachdenklich, pathetisch oder entspannt, was wollen Spieler und Hörer mehr?

Die zeitliche Einordnung seiner Clavierwerke - nicht der gedruckten, aber der handschriftlich hinterlassenen - bereitet größere Schwierigkeiten.

Graupner hat drei Sammlungen herausgegeben:

  • 1718: 8 Partien auf das Clavier,
  • 1722: Monatliche Clavir Früchte ( logischerweise 12 Partiten),
  • 1733: Vier Jahreszeiten, leider ist nur die Partita „Vom Winter" überliefert.

Von den handschriftlich hinterlassenen Werken sind diejenigen aus dem Clavierbuch der Gräfin Epstein insofern datierbar, als diese vor 1743 komponiert wurden. Die übrigen Clavierwerke, darunter sehr bedeutende, sind schlicht nicht datierbar. Selbst das sehr informative Graupner Werke Verzeichnis (GWV) erlaubt sich einen Scherz: "komponiert zwischen 1700-1750" - na, wann denn sonst?

Des weiteren liegen etliche Werke unter Graupners Namen in neueren Drucken vor (s. oben), die von dem GWV als "incerta" oder  "anonyma" ausgewiesen werden. Wie dem auch sei, einige Klavierwerke Graupners sollen besprochen werden.

a) Suite in E; GWV 106, aus dem Jahr 1718

Diese Suite, bestehend aus Allemande, Courante, Sarabande, Menuet und Gigue bietet einen guten Einstieg in Graupners Clavierstil. Während in den ersten 4 Tänzen sich der Spieler auf harmonische Überraschungen gefasst machen sollte, ist die Gigue leider leichter zu lesen und zu hören denn zu spielen. Sie ist eine "klassisch" fugierte Gigue (mit Themenumkehrung im 2. Teil), soweit, so gut. Leider wandert die Mittelstimme permanent zwischen den beiden Händen, was bekanntlich bei einem schnellen Giguetempo zu Problemen führt. Zu allem Überfluss führt Graupner im 2. Teil noch eine 4. Stimme ein. Dies klingt herrlich, macht das Üben jedoch nicht leichter.

Wie überhaupt Graupner in seinen Suiten von 1718 fugierte Giguen bevorzugt; eine taucht sogar in Marpurgs "Abhandlung von der Fuge" auf.

b) Suite in g (Martius); GWV 111, aus den monatlichen Clavirfrüchten

Praeludium, Allemande, Courante, Sarabande, Air en Bourree, Air en Sarabande, Menuet en Rondeau, Gigue. Sie sehen, die Suiten werden umfangreicher, vor allem: alle fangen mit einem Praeludium an. Dieses hier ist polyphon gearbeitet. Es folgt eine "düstere" Allemande, bei der der Spieler größte Aufmerksamkeit den nachschlagenden Akkorden in der rechten Hand widmen sollte.

Nach Courante und Sarabande folgen für Graupner typische Sätze: "Air en Rondeau". So bezeichnete Sätze sind für Spieler und Hörer eine Garantie, dass sie etwas Mitreißendes erwartet. Darmstadt liegt nicht so weit von Frankreich entfernt, so dass der Einfluss der französischen Clavecinisten sicherlich sehr präsent war (dies macht sich auch in den französischen Satzbezeichnungen bemerkbar, teilweise schön "teutonisiert", wie z.B. "Gique" oder "Sarrabande"). Die Partita wird mit einer fugierten Gigue abgeschlossen. Besitzen Sie ein Cembalo mit einem 16-Fuß? Setzen Sie ihn getrost ein: die häufig auftretenden Themeneinsätze in tiefer Basslage verführen dazu und geben dem Satz die erforderliche Gravität und Strenge.

c) Suite in f (der Winter); GWV 121

Diese Suite, leider das einzige Überbleibsel von insgesamt vier veröffentlichten, wurde 1733 in Darmstadt an das Tageslicht gebracht. Es stammt folglich aus Graupners späterer Periode. Es ist eine größere Partita mit den Sätzen: Praeludium (Largo/Un poco Allegro); Allemande; Courrante; Menuet 1,2,3; Air en Sarabande; Bouree en Rondeau. Ob Graupner sich veranlasst sah, Bachs in diesem Zeitraum gedruckten sechs Partiten etwas Ähnliches zur Seite zu stellen, wissen wir nicht, vorstellbar ist es, denn Aufbau, musikalisches Gewicht, moderner Klavierstil sprächen dafür.

Schon das eröffnende, zweiteilige Praeludium ist für Graupner Neuland, sieht man einmal von französischen Ouvertüren als Einleitung ab. Das "Largo" spart nicht mit gepunkteten 16tel, ist aber weit davon entfernt, Pomp und Gravität eines Ouvertürenlargos zu verbreiten. Vielmehr ist es nachdenklich, verhalten, und für eine Ouvertüre viel zu lang. Eine Adagiokadenz leitet zum fugierten "Un poco Allegro" über. Hier wechseln polyphone und einstimmige Episoden ab, wobei es angeraten ist, die einstimmigen Achtel als Akkorde zu halten. Eine Coda beendet diesen Satz in trüber, winterlicher Stimmung. Die folgende Allemande ist lang, schön und modern geschrieben: Bassoktaven, nachschlagende Oktaven, voller 32tel auch in der Mittelstimme, so richtig etwas zum Üben. Ähnlich modern ist die Courrante, einer der längsten, die ich kenne. Im zweiten Teil dieser Courrante wird die Spannung über einen chromatisch aufsteigenden Bass auf den Höhepunkt getrieben, um dann mit einem rasanten Laufwerk zu schließen.

Die drei Menuette bilden ein Kontrastprogramm: ist das erste einfach und verhalten, verbreitet das zweite finsterste Stimmung in f-Moll, das dritte hingegen strahlt in F-Dur. Die nun folgende "Air en Sarrabande" ist barocker Pathos pur, volle Akkorde, Chromatik, ähnlich Bachs Partitensarabanden. Haben Sie ein Cembalo mit 16-Fuß, hier können Sie ihn wunderbar einsetzen. Graupner schließt die Partita mit einer "Bouree en Rondeau". Wer Graupner kennt, ahnt, dass jetzt etwas Besonderes auf ihn zukommt. Er wird nicht enttäuscht. Denken Sie beim spielen daran, dass Bourees schnelle Tänze sind: je schneller, desto rauschender. Es lohnt sich.

Dieser "Winter" soll das Praeludium zu Graupners wohl bedeutendstem Klavierwerk sein:

d) die Partita in A-Dur, GWV 149

Dieses Werk ist neuerdings in einem modernen Druck erhältlich.

Im Aufbau ähnelt diese Partita dem "Winter": Praeludium (2-teilig); Allemande; Courrante; Sarabande; Menuet; Aria mit 5 Variationen; Bouree; Gigue, Chaconne. Es ist umfangreicher als der "Winter", jedoch auch von hoher musikalischer Erfindungskraft, und vertritt einen "modernen" Klavierstil. Es liegt nahe, dieses Werk in Graupners spätere Zeit anzusiedeln. Vielleicht ist es auch eine der nunmehr fehlenden aus der Partitensammlung "Jahreszeiten". Wir wissen es nicht.

Das Einleitungspraeludium bringt in seinem ersten Teil Fantasie/Rezitativ-artige Episoden, um in einer Fughetta zu münden. Die Sätze Allemande, Courrante, Sarabande und Menuet stehen auf dem nunmehr bekannten hohen Niveau. Es folgt die Aria mit Variationen. Sie sind, als wollte Graupner uns spieltechnisch auf das Kommende vorbereiten. Eine kurze Bouree und eine virtuose, spritzige Gigue schließen sich an. Nun wäre eine "normale" Partita zu Ende. Aber nein, es folgen noch 249 Takte einer Chaconne, und diese über den bekanntesten, simplen Chaconnenbass den es gibt: die fallende Quart. Dass daraus etwas Herausragendes komponiert werden kann, zeigt uns Graupner Takt für Takt. Es ist nicht erstaunlich, dass einem beim Spielen oder Hören sofort Assoziationen zur d-moll Chaconne von JS Bach kommen. Diese Tatsache ist nicht nur der Länge geschuldet. Aufbau, Steigerungsmittel, Virtuosität, schroffe Brüche sind in beiden Stücken ähnlich, auch in ihrer Genialität. Clavierspieler beklagen sich häufig, dass es keine adäquate Chaconne für Tasteninstrumente gäbe. Hier haben sie eine. Im Einzelnen: der Bass wird in 8 Takten vorgestellt,

um danach Grundlage sich steigernder Virtuosität zu dienen. Ab Takt 33 wird das Grundthema wiederholt, und wieder wird die Virtuosität vorgeführt, bis Takt 48. Jetzt wird zum 1. Mal fis-moll ins Spiel gebracht, herrisch, auftrumpfend.

Nach 8 Takten Spielwerk folgt die Umkehrung der fis-moll-Episode, jedoch streng chromatisch, auch im Bass.

Bis Takt 112 wird die Virtuosität gesteigert. Der chromatische Teil wird wiederholt und führt lückenlos in den 2. Abschnitt der Chaconne, der in a-moll steht. Graupner schreibt zu Anfang einen elegischen Mollteil. Jedoch die einsetzenden Triolen ab Takt 145 lassen Böses ahnen: das kommt auch, abrupt, brutal, virtuos mit 32tel Läufen gespickt ab Takt 153.

Diese Anstrengung muss bis Takt 185 durchgehalten werden. Aus meiner Sicht ist kein Komponist JS Bach so nahe gekommen wie hier. Ab Takt 186 folgt der 3. Abschnitt dieser Chaconne. Wieder in strahlendem A-Dur, wird der triumphale Schluss eingeleitet.

Jetzt treten auch die geballten Akkorde auf, danach der berühmte "retardierende" Moment, um dann in wilden virtuosen Läufen zum Anfang zurück zu kommen,

womit die Chaconne dann endet. Bravo Graupner!

Überhaupt hat Graupner ein "faible" für Chaconnen. Da gibt es nämlich noch eine, die eine nähere Betrachtung (jedoch vor allem Spielen) lohnt: die Abschlusschaconne der Suite "Julius", GWV 115. Von wg. "tragischer" Mollchaconne: sie steht in D-Dur, und verbreitet vom ersten Ton an barocke Pracht bis hin zum Triumphalismus.

Punktierte Achtel wie bei einer Ouvertüre, mit den dazu gehörenden 32tel zur nächsten Note, geht sie sofort in strahlende Virtuosität über. Ein Mollteil wäre hier unangebracht, sie rauscht fröhlich in Dur, vom Beginn bis zum Ende.

Für den Spieler ist die Interpretation recht schwierig: es gibt keine Atempausen, keine richtigen piano-Stellen, wie soll er das auf dem Cembalo darstellen? Die Wiederholungen "piano" zu spielen ist hier fehl am Platz (das ist meine einzige Kritik an den sonst vorzüglichen Einspielungen von Genevieve Soly der Graupnersuiten: sie unternimmt es, und zerstört damit das triumphale Ambiente dieser Chaconne).