Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Vielleicht gehört er dazu: Johann Peter Kellner

J.P. Kellners Klavierwerke -  einer Revision unterworfen

JP Kellner, 1705 in Gräfenroda geboren und dort 1772 gestorben, war und blieb Organist in seiner Heimatstadt. Trotzdem, er hat Bach und Händel persönlich kennengelernt und ihre Werke hochgeschätzt. Von JS Bach hat er mehrere Werke kopiert, in wie weit die "Vorschriften und Grundsätze zum 4-stimmigen Spielen des General-Baß oder Accompagnement" aus dem Jahr 1738 von Bach stammen, ist strittig.

Kellner hat mehrere Klavierwerke hinterlassen, darunter das "Certamen musicum", einer Folge von sechs Suiten. Wie üblich, gab es keine Ausgabe dieses Werkes, dafür in der MGG harsche Kritik:

"obwohl Kellner nachweisbar Bachs Werke sehr schätzte, ist in seinen Kompositionen nicht allzuviel von dessen Geist zu entdecken, ... die Erfindung ist schwach".

Seit 1994 gibt es eine Neuausgabe des Certamens, schlecht, mit sicherlich etlichen Fehlern, aber es reicht, um einen guten Überblick über das Werk zu erhalten. Mein Misstrauen gegenüber den Werturteilen der MGG kennt keine Grenzen, obwohl in diesem Fall Lothar Hoffmann-Erbrecht der Verfasser ist. Dieser sehr geschätzte Wissenschaftler wirft nun Kellner vor, in die seichten Gewässer des Galanten abgedriftet zu sein, obwohl alle Suiten mit Präludien und Fugen beginnen. Ein weiterer Vorwurf ist, dass der "klassische Suitenkanon" in keiner Suite eingehalten wird. Da werden aber Händel, Telemann aber auch Bach noch in die Schule gehen müssen. Kurzum, es drängelt sich der Verdacht - wie schon so oft - auf, dass der Verfasser dieses Artikels die besprochenen Werke kaum gekannt hat und der Vergleichsmassstab in diesem Fall einzig und allein JS Bach ist.

Kommen wir zur Sache: Nicht alles auf Noten gebannte ist bei Kellner überzeugend, es gibt tatsächlich Leerlauf, schwächere Partien, skurrile Wendungen. Aber, das Certamen steht insgesamt turmhoch über den Produkten des galanten Sektors. Der Einfluss JS Bachs ist deutlich spürbar, sehr deutlich gleich zu Beginn, dem Prelude der ersten Suite in F. Hier steht das Praeludium in C aus WTC1 Pate. Auch die abschliessende Gigue der zweiten Suite in D wäre ohne Bach nicht denkbar, musikalisch, aber auch technisch. Wie überhaupt, Kellner erlaubt sich manchmal einen intrikaten Claviersatz, modern, mit allen Bachschen Wassern gewaschen.

Kellners Fugen machen dem Spieler grosse Freude, es sind richtige "Spielfugen", ohne komplizierte polyphone Verwicklungen, mit markanten Themen, die teilweise etwas lang geraten sind (bei JS Bach gibt es genügend Vorbilder), also zum üben. Kellners Verbeugung vor dem "stilo antico" (so wie er ihn gesehen haben mag) ist der Schlusssatz der sechsten Suite in C: eine "klassische" Allabreve. Im Allgemeinen hat Kellner die Tendenz zu einfacherer oder schlichter kontrapunktischer Arbeit. Die bei unseren "Musikwissenschaftlern" so beliebten kontrapunktischen "Spielchen" wie Engführungen, markante Gegenstimmen etc. fallen aus, vielmehr werden häufig Sechszehntel gegen Achtel in Sexten oder Terzen geführt - Anlass genug, ihn übel zu beschimpfen und zu diskreditieren. Ich darf den Kritikern folgende, vielleicht unangenehme Tatsachen ins Gedächtnis zurückrufen:

  1. Es handelt sich um Spielfugen, d. h.: sie sollen dem Spieler (nicht dem Leser!) Freude bereiten.
  2. Kellner hat das Certamen in den Jahren 1739 - ?1749, vielleicht auch noch später im Druck veröffentlicht. Sein Ziel war sicherlich nicht, Wissenschaftler zu befriedigen, sondern Spieler (sehr wahrscheinlich nicht einmal Zuhörer). Ein weiteres Ziel war ohne Zweifel das Auffüllen seiner Kasse. Die Mehrzahl der Notenkäufer bestand schon in seiner Zeit aus Liebhabern (im Sinne CPE Bachs). Wie diese mit gedruckten "hochkontrapunktischen" Werken umgegangen sind, zeigt:
  3. das Schicksal des Drucks der "Kunst der Fuge" von JS Bach. Trotz aller Bemühungen seitens CPE Bach und anderer war dieses Werk nicht absetzbar, so dass die Druckplatten zu Metallpreisen an den Schrotthändler verschleudert wurden. Kellner scheint die Marktbedürfnisse gut gekannt zu haben.
  4. Erst an diesem Punkt dürfen wir mit unseren Vergleichen beginnen: Was wurde sonst noch dem Liebhaber via Druck geboten. Da bieten sich die Clavierübungen von JS Bach, die preussischen/württembergischen Sonaten von CPE Bach, einige Telemanns aber auch eine große Menge von musikalischem Schrott an (wie Singende Muse an der Pleisse).
  5. Es ist anzuraten, nicht die Werke des Schülers mit denen des Meisters zu vergleichen, sondern versuchen heraus zu finden, was und wie übernommen wurde und was nicht. Es kann vorausgesetzt werden, dass Lehrer wie JS Bach ihre Schüler wesentlich stärker musikalisch beeinflusst haben als Fux und Albrechtsberger (gottlob!). Im einzelnen:

"Certamen": Suite F-Dur: das Präludium (Andante), dreistimmig, hat als "Vorlage" offensichtlich das Präludium C-Dur aus WTC1. Es steigert sich von a bis A bei gleichförmigem Bass, sehr ruhig, aber harmonisch spannend (wie Bach). Die Mittelstimme zitiert den Anfang des folgenden Fugenthemas.

Die Fuge entpuppt sich als eine freudige Spielfuge, kontrapunktisch im Rahmen einer solchen, mit angedeuteten Engführungen und Themendurchführungen auch in der Mittelstimme.

"Certamen": Suite D-Dur: hier bietet das Präludium ein "Konzert" mit Ritornell und Soli. Sogar eine Coda ist vorgesehen. Die dreistimmige Fuge hat ein "bachisches" Thema, welches dreistimmig mehrere Male durchgeführt wird. Für Spieler ist sie ein reines Vergnügen. Das Anfangsmotiv des Präludiums ist übrigens auch der Anfang der Fuge.

"Certamen": Suiten A-Dur, E-Dur, C-Dur: bietet das E-Dur Präludium einen Satz a la Telemann und eine herrliche Fuge (mit kleinen konzertanten Einlagen), stellt das A-Dur Präludium ein Concerto dar, während das Fugenthema tatsächlich etwas lang geraten ist (wieder erinnert uns der Anfang des Präludiums an das Fugenthema). Das C-Dur Präludium ist wie WTC1 ein "Flächen"-Stück über die gesamte Tastatur, die Fuge dagegen ist etwas zu ausgedehnt.

Nun zu den Folgesätzen. Hier offenbart sich tatsächlich eine gewisse Schwäche, weniger bei den "freien" Stücken (Andante, Allegro), auch nicht bei Sarabanden, Menuetten und Giguen, sondern speziell bei den Allemanden und Couranten. Sie sind "mechanistisch" und offensichtlich lustlos geschrieben worden. Diese Sätze scheinen sich  ab 1730  überlebt zu haben (schon Bach streicht die Allemande in der Ouvertüre des 2. Teils der Clavier-Übung). Eine ähnliche Entwicklung ist bei den Suiten und Partiten JL Krebs' zu beobachten: auch hier fallen die Allemanden und Couranten gegenüber den anderen Teilen ab. Kirnberger hingegen (wohl die "konservativste" Kellnersche/Bachsche Kreatur) schreibt noch "schöne" Allemanden.

Gott sei Dank bestehen Suiten nicht nur aus Allemanden und Couranten. In den anderen Stücken stellt uns Kellner Musik vom feinsten vor. Man nehme beispielsweise:

  • Allegro (Schlusssatz der 1. Suite), spritzig und witzig, eine Meisterleistung. (Das "pseudo-pathetische" Schlussadagio ist ein gutes Beispiel für Humor in der Musik)
  • Gigue ( 7.Satz der 2. Suite), ohne Bach nicht denkbar, ebenfalls eine Meisterleistung.
  • Andante (Mittelsatz der 3. Suite), ein gekonntes Trio
  • Adagio  (Mittelsatz der 4. Suite), der langsame Satz aus dem it. Konzert lässt grüssen.

Aber auch die anderen freien Sätze, wie auch Menuette, Aria, Temps de Marche, sind voller "esprit" und Schönheit.

Nun zu den weiteren Klavierwerken Kellners.

Hier bietet der Komponist mehrheitlich Durchschnitt und teilweise Leerlauf an. Kellner wird wohl gewusst haben, warum er diese Werke nicht veröffentlichte. Bewegt sich die Ouvertüre in C (ohne Folgesätze) noch auf dem Niveau des Certamen, sollten die weiteren Präludien und Fugen zwar gespielt aber nicht überbewertet werden. Das Präludium in G (mit Fuge) zeichnet sich durch harmonische Kühnheiten aus, eher eine Fantasie, und ohne die chromatische Fantasie JSBs nicht denkbar. Tiefer in den Keller geht es dann mit den weiteren Stücken, wie Sonaten (trotz des harmonisch aufregenden Siciliano in der Sonate in G), Konzert in G, Variationen in A. Spielerisch zwar dankbar zu realisieren, bleibt jede musikalische Befriedigung in weiter Ferne.

Versuch einer (Neu-) Bewertung der Klavierwerke

  1. Kellners Klavierwerke im "alten" Stil  sind eine schöne Mischung von eigener Erfindungsgabe, Bachschem Einfluss (aber auch Händels und Telemanns) und einem modernen Klaviersatz. Für Spieler (aber auch Hörer), die etwas Neues auf dem Notenpult bzw. Ohr haben wollen, eine lohnende Aufgabe. Dies gilt vor allem für das Certamen.
  2. Kellners Klavierwerke im "neuen" Stil sind hingegen durch die Bank weg misslungen. Er war nicht der einzige, dem dieses Missgeschick unterlief, siehe beispielsweise JL Krebs. Es ist sicherlich äusserst schwierig, sich von dem Einfluss des "Lehrers" zu trennen und gleichzeitig etwas gleichwertig Neues zu schaffen. Nur CPE Bach hat dies vollbracht. Er hat es gewusst.