Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Johann Gottfried Müthel

Johann Gottfried Müthel, geb 1728 in Mölln, gestorben 1788 in der Nähe Rigas, hat nur sehr kurz Unterricht bei JS Bach gehabt, danach bei Altnikol, Hasse, CPE Bach und Telemann. Die längste Zeit seines Lebens verbrachte er im Baltikum, Riga, zuletzt als Organist der dortigen Hauptkirche. Trotz dieser Abgeschiedenheit wurde er schon zu seinen Lebenszeiten berühmt - als Klavierkomponist. Burney, Schubarth, Gerber und Forkel rühmten seine Klavierkompositionen als herausragend, technisch und verstandesgemäß äusserst schwierig zu beherrschen, etwas völlig Neuartiges, ein wahrer Prüfstein für angehende Pianisten. Recht hatten sie.

Stilistisch lehnt er sich stark an CPE Bach an, versucht jedoch, diesen zu übertreffen, sei es im Ausdruck, Radikalität, aber auch an technischen Anforderungen. Dazu beigetragen haben seine im Druck veröffentlichten Werke 1756, drei Sonaten, zwei Variationsfolgen.

Die drei veröffentlichten Sonaten stehen in F, G und C. Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was einen erwartet, wird gezeigt:

Vor allem haben es die langsamen Sätze in sich. Diese sind grundsätzlich ausgedehnter als bei vielen seiner Zeitgenossen, einschliesslich CPE Bach. Sie kamen sicherlich sehr seinem grüblerischen Charakter entgegen. Zwei dieser langsamen Sätze (der Sonaten in F und C) sind eher fantasieähnlich strukturiert, mit wechselnden Tempoangaben und taktfreien Passagen, quasi rezitativen Einschlüssen. So zeigt der langsame Satz der Sonate in F folgende Tempi: Largo e Staccato; Mesto, Largo, Mesto, Allegro, Mesto, ind steht in der "finsteren" Tonart f-Moll. Der zweite Satz der G-Dur Sonate steht in g-Moll, und ist durchgehend ein Adagio. Dieses ist streng dreistimmig gehalten, ohne an barocke Triosätze anzuknüpfen. Hingegen steht der zweite Satz der C-Dur Sonate in a-Moll. Die Tempoangaben wechseln sehr oft, von "Un poco Adagio" bis hin zum "Allegro". Hier wird exemplarisch ein Sturm und Drangsatz vorgeführt, besser geht es kaum noch:

der Höhepunkt des Satzes:

Auch auf dem Gebiet der Klaviervariationen hat Müthel Beachtliches geleistet, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen. Veröffentlicht wurden davon zwei, 1756 unter dem Titel: "zwei Ariosi mit Variationen". (pour le clavessin!!) Sie stehen in G-Dur und c-moll. Müthel vermeidet das allseits beliebte Variationsschema (schon, indem er "simple" Vorgabethemen ablehnt), und gibt jeder Variation einen eigenen Charakter, eine geänderte Themensicht. Die Schlussvariation lässt das Originalthema nur mehr als geübter Hörer erkennen, die c-moll Variation endet fantasieartig.

Müthels Variationen sind, wie fast alle seine Klavierwerke schwer zu spielen und zu interpretieren. Wie solches auf einem "clavessin" zu veranstalten ist, bleibt mir verborgen. Ein sehr bedeutendes Variationswerk ist bislang noch ungedruckt. Schade, es enthält als Abschlussvariation eine "klassische" norddeutsche, taktfreie Fantasie (hier, aus dem Manuskript:)

Ein Bachschüler, exzellenter Pianist, und keine Werke für 2 Klaviere? Nicht bei Müthel, er hat zwei davon unter der Bezeichnung "Duetto"geschrieben in C- und Es-Dur. Letzteres wurde 1771 in Riga gedruckt, und erregte in Fachkreisen sofort große Aufmerksamkeit. Zu Recht! Es gehört aus meiner Sicht zu den Spitzenwerken dieser Gattung, wenn nicht überhaupt das Spitzenwerk für zwei Klaviere des 18. Jhdts. Alles, was Müthel beherrschte (und das ist sehr viel), ist dort versammelt: ein bis in das Letzte durchgefeilter Klaviersatz, Gleichberechtigung beider Instrumente, schwierige, "abgedrehte" Faktur und trotzdem logisch, genial und herrlich... zum anhören. Wenn sich 2 Spieler und Instrumente finden, stehen die vor technischen, mehr jedoch vor Zusammenspielproblemen ungeahnten Ausmaßes. Die Sonate von WF Bach ist ein Kinderspiel dagegen. Das Duetto in C-Dur liegt nicht gedruckt vor, dafür wenigstens auf CD. Es ist etwas einfacher strukturiert und lohnt sich anzuhören.

Eine sehr erfreuliche Mitteilung ist doch noch zu tätigen: dank eines wertvollen Hinweises von Dr. Peter Wollny (Bacharchiv Leipzig), der mitteilte, dass in der Staatsbibliothek Berlin ein weiterer Konvolut mit Müthel-Handschriften vorliegt, jedoch ohne Komponistenangabe, habe ich mir diese Werke angesehen und durfte sie fotografieren. Nach eingehender Prüfung und Vergleich mit bekannten Müthel-Clavierwerken kann festgestellt werden: es liegen zwei weitere bedeutende größere Clavierwerke Müthels vor:

  • "Concerto pour le Clavecien" in B-Dur
  • ein dreisätziges Werk in c-moll, möglicherweise eine Sonate
  • eine Vielzahl weiterer Menuette.

Nimmt man die in der Staatsbibliothek vorliegenden, jedoch nicht gedruckten Werke hinzu (bei Kemmler angeführt), ein "Concerto pour le Clavecien" in Es-Dur, eine große Sonate in Es-dur, drei einsätzige Sonaten (g-moll, Es-Dur, G-Dur) und etlicher Variationswerke, so erhöht sich die Anzahl der Müthel´schen Clavierwerke recht beträchtlich, sicherlich sehr zur Freude der Kenner und Liebhaber norddeutscher Claviermusik. Es wird nunmehr versucht, diese Werke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Der Komplex „Les heures agreables et innocentes“, und die 1756 bei Haffner/Nürnberg veröffentlichten „3 Sonates et 2 Ariosi avec 12 Variations pour le Clavessin“.

Wie schon früher festgestellt worden ist, ist das Material dieser Sammlungen überwiegend identisch, dem ersten Augenschein nach. So sind der erste Satz (Allegro) und der und Schlusssatz (Presto) der Suite in F (heures agreables) und der ersten Haffner-Sonate in F nahezu gleich. Bei identischer Taktanzahl beider Sätze unterscheiden sich diese Sätze nur durch zusätzliche Verzierungsangaben in der Haffner-Sonate. Der 2. Satz (Largo e staccato) der Sonaten in F ist durch ein „Rezitativ“ erweitert. Die Suite in F hat hingegen noch weitere Sätze: ein Arioso con 5 Variazioni, Menuet alternatif, Polonoise alternatif.

Ähnliches ist bei der Suite in G der „heures agreables“ und der entsprechenden Haffner-Sonate in G zu beobachten. Doch hier sind die Eingriffe Müthels wesentlicher. Beinhaltet der erste Satz der „heures agreables“ 72 Takte, sind es bei dem entsprechenden Satz der Haffner-Sonate 83 Takte. Der Eingriff erfolgt ab Takt 50. Die beiden langsamen Sätze (Adagio) sind identisch. Danach folgen in der Suite ein Arioso con 6 Variazioni, Menuet alternatif, Polonoise alternatif. Die Schlusssätze beider Werke sind bis auf die Tempoangabe (Allegro) und Takt (3/8) völlig unterschiedlich. Das Arioso und seine sechs Variationen aus dieser Suite sind identisch mit dem Arioso avec 12 Variations des Haffnerdrucks.

Die Frage nach der Entstehungszeit beider Werke lässt sich wie folgt beantworten: das schön geschrieben Titelblatt (was darauf hindeutet, dass diese Suiten bei Haffner veröffentlicht werden sollten, da dessen Name dort schon erscheint) hat folgende Angaben: „composees par Jean Godefroy Müthel, Musicien de la Chambre et Organiste de la Cour….des regierenden Herzogs von Mecklenburg“. Da Müthel ab 1753 in Riga wohnhaft und tätig und mit Sicherheit nicht mehr Hofmusiker in Mecklenburg war, ist klar, dass diese Suiten vor 1753 komponiert wurden. Die Haffner-Sonaten, Ariosi wurden erst 1756 veröffentlicht. Warum die Suiten nicht veröffentlicht wurden, entzieht sich unserer Kenntnis.

Zu bemerken ist weiterhin, dass in dem Originalmanuskript der Suite in G-Dur das Arioso con 6 Variazioni die einzelnen Variationen später umnummeriert worden sind, und zwar in der Reihenfolge des späteren Haffnerdrucks. Variation 1 und 2 sind in beiden Werken gleich, aus Variation 3 der Suite wird 6 des Haffner-Ariosos, aus 4 wird 7, aus 5 wird 8, und aus 6 wird 11. Diese Umnummerierung wurde von Müthel geschrieben.

Über die Gründe der Nicht-Veröffentlichung der Suiten können nur Vermutungen angestellt werden. Lag es an der doch sehr unüblichen Satzfolge? Hatte Haffner Marktbedenken? An der Qualität der Musik kann es nicht gelegen haben, sie wurde doch grosso modo 1756 als Sonaten bzw. Arioso gedruckt. Auch die musikalische Qualität der zusätzlich in den Suiten befindlichen Sätze lässt keine Wünsche offen: das Arioso mit 5 Variationen der F-Dur Suite ist von gleicher Struktur, musikalischer Tiefe, „müthel´scher Claviernickeligkeit“ wie die Haffner-Ariosi, von denen das in G-Dur samt 6 Variationen aus der zweiten Suite stammt. Auch sind die in den Suiten auftretenden Menuette und Polonaisen qualitativ erheblich höher stehend, als viele der freien Menuette Müthels (siehe weiter unten).

Fazit: Müthels Kompositions- und Clavierstil war schon sehr weit entwickelt, als er noch Hoforganist bei den Mecklenburgs war. Er hat ihn dann in Riga noch weiter entwickelt. Das könnte ein Ansatzpunkt für die Datierung seiner Clavierwerke sein.

Der Komplex Claviersonaten

Von Müthel sind 10 Claviersonaten überliefert, davon neun bei Kemmler angeführt:

  1. F-Dur, Allegro, Largo, Presto
  2. G-Dur, Vivace, Adagio, Allegro
  3. C-Dur, Moderato, un poco Allegro, Allegro
  4. B-Dur, Allegro moderato e cantabile, Minuetto mit 6 Variationen
  5. C-Dur, o.B.
  6. Es-Dur, o.B., Adagio, Presto
  7. g-moll, Allegro
  8. Es-Dur, Allegro
  9. G-Dur, Allegro
  10. c-moll, o.B., Allegro, Presto

Die Sonaten 1 – 3 wurden bei Haffner 1756 gedruckt und 1954 bei B+H nachgedruckt. Die Sonaten 4 und 5 wurden 1961, 1964 bei Kistner und Siegel erstmalig veröffentlicht. Die Sonaten 6 – 9 liegen als Originalmanuskript in der Staatsbibliothek Berlin, sowie ebenfalls die Sonate 10. Diese liegt in Müthels Handschrift vor, aber ohne Angabe des Komponisten/Titels, so dass diese Sonate bei Kemmler nicht aufgeführt wird.

Kemmler bezeichnet die Sonaten 7 – 9 als „vermutlich Jugendwerke, ihre Faktur ist nämlich simpel und floskelhaft“ (S.286). Mein Misstrauen gegenüber derartig „floskelhafte“ Werturteile kennt kaum Grenzen, vor allem bei Autoren, die einen Komponisten auf ein Werk (hier das Duetto in Es-Dur) reduzieren.

Dieses Problem stellt sich nicht nur bei dem Komponisten Müthel. Liegen Manuskripte vor, „di Müthel o.ä.“ bezeichnet, die jedoch nicht der selbstdefinierten idealtypischen Kompositionsweise (hier: Duetto in Es-Dur, Haffnerdrucke, Clavierkonzerte) entsprechen, werden Pauschalurteile eilfertig erstellt, Jugendwerk, nicht von ihm, Kopistenirrtum uvam. Wir werden jedoch sehen, dass Müthel keineswegs immer „idealtypisch“ komponiert hat. Auch er hatte Schüler, konnte unter Zeitdruck stehen, wollte ausprobieren etc. Natürlich können letzte Zweifel an der Autorschaft damit nicht beseitigt werden.

Die Sonaten 7 – 9 bestehen nur aus einem Satz: jeweils ein Allegro. Ob das von Müthel so geplant war, oder Quellenverluste eingetreten sind, wissen wir nicht. Selbiges gilt übrigens auch für die Sonate 5 in C-Dur, die jedoch typisch „müthelsch“ auftritt. Das ist bei den Sonaten 7 – 9 nicht der Fall. Es müssen jedoch auch bei diesen Sonaten Differenzierungen vorgenommen werde. Die Sonaten 7 (g-Moll) und 8 (Es-Dur) zeigen schon den Müthel-Clavierstil mit seinen „Nickeligkeiten“ (gebrochene Akkorde über mehrere Oktaven, Überschlagen der Hände). Bei Sonate 7 endet die Exposition schon in g-moll. Dann folgt die Durchführung, die in B-Dur schließt. Darauf folgen zwei Worte: „volti repriso 2ndo“. So kann man es auch machen. Sonate 9 (G-Dur) ist tatsächlich sehr durchschnittlich. Albertibässe zuhauf, die Müthel zwar einsetzt, jedoch kurz und selten, erfindungsschwach. Möglicherweise war sie als Etüde für Schüler gedacht.

Kemmler hat zwar die Sonate 6 (Es-Dur) gelistet, jedoch offensichtlich übersehen, dass diese Sonate ein großartiges Werk ist, von dem ersten bis zum letzten Takt „idealtypisch“ komponiert. Sie entspricht in allen drei Sätzen (o.B., Adagio, Presto) den Haffnersonaten, ihr Clavierstil, Überraschungen, Tiefe der Empfindung, hervorragend strukturiert.

Die Sonate 10 (c-moll) ist eine Neuentdeckung (falls sie von Müthel als Sonate gedacht war). In der Berliner Staatsbibliothek liegt ein Konvolut in Müthels Handschrift vor, jedoch ohne Komponistenname, und im Fall der drei Stücke in c-moll ohne Werktitel. Dass diese Stücke zusammengehören geht eindeutig aus dem „volti Allegro“ nach dem 1. Satz, und dem „volti Presto“ nach dem 2. Satz hervor. Doch schon der 1. Satz bereitet so seine Probleme: kein Werktitel, keine Tempobezeichnung, beginnt auftaktig in f-moll, ist eine norddeutsche Fantasie. Es könnte folglich durchaus der Fall sein, dass die Anfangsseite(n) verlorengegangen sind. Dagegen spricht wiederum, dass auf dieser Seite in Müthels Handschrift „compose par…..“ geschrieben steht. Als 2. Satz folgt ein Allegro. Wer jetzt glaubt, einen Sonatensatz mit Exposition, Doppelstrich, Durchführung, Reprise vorzufinden, irrt sich gewaltig. Der Satz ist ein breit ausgelegtes Rondo mit einem recht ruhigen Thema, welches in den unterschiedlichen Tonarten als Reprise, meist unverändert erscheint. Die Einlagen gehen von „intrikat“ bis hoch virtuos, also typisch Müthel. Der Schlusssatz, ein Presto assai gibt sich sehr kurz: 16 Takte, Doppelstrich, 16 Takte und Schluss. Die überschlagenden Hände – im Presto assai – fehlen jedoch nicht. Auch typisch Müthel. Diese Sonate entspricht zwar nicht dem „gewohnten“ Müthelbild, trotzdem ist sie sehr hochwertig.

Die Sonaten 1 – 5 sind durch Neudrucke erhältlich (so man die noch findet), und haben unser Müthelbild stark geprägt, zu Recht. Es sind außerordentliche Sonaten, von sehr hoher Qualität, schwierig zu spielen und interpretieren. Hinzu kommt, dass selbst der Hörer diese nur bei wachem Verstand nachvollziehen kann, also keine einfache Kost. Das wiederum erschwert den Zugang zu diesen Sonaten, wie zu Müthels Werken insgesamt. Er konnte jedoch auch anders, wie noch zu zeigen sein wird.

Der Komplex: Solokonzerte für das Clavier

Von diesem Genre gibt es zwei, in B und Es-Dur, die über Jahrhunderte einen gesunden Tiefschlaf in der Staatsbibliothek Berlin gehalten haben. Beide Konzerte tragen den von Müthel geschriebenen Titel: „Concerto pour le Clavecien“ (mit der französischen Schreibweise stand  Müthel wohl auf Kriegsfuß, wen wundert es). Das Konzert in B-Dur befindet sich in dem o.a. Konvolut (ohne Komponistenabgabe), und ist deswegen bei Kemmler nicht gelistet. Das Es-Dur Konzert hat die Komponistenangabe Müthel. Beide Konzerte liegen als Autograph vor. Das ist ein deutlicher Hinweis, dass beide Konzerte auch Werke Müthels sind. Für das B-Dur Konzert folgen jedoch noch weitere Argumente.

Etliche JSB-Schüler haben sich das „Konzert im italienischen Gusto“ Bachs zum Vorbild gewählt, ein ähnliches Werk zu hinterlassen (abgesehen davon, dass Claviersolokonzerte Mitte des 18. Jhdts „en vogue“ waren.) Friedemann, Carl Philipp, Krebs haben derartige Werke geschrieben. Nun gesellt sich Müthel dazu.

In beiden Konzerten zeigt sich Müthel von einer anderen Seite. Von dem gewohnten Müthelbild, Versponnenheit, Grübelei, Sturm und Drang, ist kaum etwas zu bemerken. Dagegen sind Spielfreude, Aufzeigen der claviertechnischen Möglichkeiten und Grenzen, ja Virtuosentum angesagt, all das auf sehr hohem Niveau. Es sind richtige Konzerte, der Spieler muss sich auf einiges gefasst machen.

Das fängt schon mit dem B-Dur Konzert an: es gibt keine dynamische Angaben. Der Spieler muss folglich die Tutti/Solostellen selbst festlegen, was nicht unproblematisch. Der 1. Satz (Vivace) ist mit 108 Takten recht ausgedehnt, und stellt sehr hohe technische Ansprüche. Es folgt als 2. Satz ein „Dolce“ in b-moll. Er umfasst 24 Takte, nach acht Takten steht der Doppelstrich. Dieser Satz ist wiederum Müthel, wie wir ihn kennen. Zum Abschluss dieses Konzerts bringt Müthel ein Menuet mit sechs Variationen. Nach dem Durchlesen/spielen stellt sich sofort die Frage: was wollte Müthel mit diesem Satz bezwecken? Dem Spieler einen „gemütlichen“ Ausgang verschaffen, nach den Anstrengungen der beiden vorherigen Sätze? Hatte er keine Lust mehr an der Sache? Denn dieser Variationssatz ist ein typischer für Variationssätze des 18. Jhdts. Mehr als das Übliche wird nicht geboten. Dass Müthel auch andere Variationen schreiben konnte, hat er hinlänglich bewiesen.

Das Es-Dur Konzert ist sehr ähnlich strukturiert: dem ersten, technisch „intrikaten“ Satz, der wesentlich kürzer als der des B-Dur Konzertes ist, folgt ein…..Dolce, diesmal in es-moll. Auch dieser besteht aus 24 Takten, schreibt ebenfalls einen 3/8 Takt vor, ist auch Müthel, wie wir ihn kennen, verbreitet eine identische Stimmung wie das Dolce aus dem B-Dur Konzert.

Ein Schlusssatz ist nicht vorhanden. Möglicherweise ist das Autograph verloren gegangen, oder Müthel hat dieses Werk nicht vollendet, aus welchen Gründen auch immer. Wir wissen es nicht.

Die Quasiidentität der beiden langsamen Sätze ist ein weiterer wichtiger Hinweis darauf, dass das namenlose B-Dur Konzert ein Werk Müthels ist.

Der Komplex: Variationssätze, Menuette, sonstige freie Stücke

Nun betreten wir vermutlich Müthels „Alltags-Komponierstube“. Kompositionsalltag hatten die meisten Komponisten. Sie unterrichteten Schüler unterschiedlichen Alters und Fähigkeiten, mussten Sonderwünsche hochmögender Geldgeber meist sehr schnell befriedigen, „ach Müthel, machen Sie doch bitte schnell noch ein paar Tänze. Wir geben übermorgen eine soiree dansante…“. All das musste bedient werden, diente es doch dem Auffüllen des Geldbeutels. Kaum ein Komponist konnte sich dem entziehen, auch unsere „großen“ nicht. Manche ihrer Werke klingen auch danach. So auch bei Müthel.

Folgende Kompositionen sind hier aufzuführen:

  • 4 Variationen (in C, G, F, F-Dur)
  • 2 Märsche in F-Dur
  • Divertimento B-Dur
  • 1 Prestissimo in D-Dur (liegt mir nicht vor)
  • ein paar Dutzend Menuette (einen genauen Überblick gibt es nicht. Der o.a. Konvolut enthält viele davon, die noch nicht überprüft werden konnten).

Die Variationssätze in C- und G-Dur schlägt man auf, um sie gleich wieder zu schließen. Es sind nützliche Fingerübungen für Clavierschüler.

Das erste Variationswerk in F-Dur, ein Allegretto mit 6 Variationen, ist hingegen schon ein anderes Kaliber. Der „idealtypische“ Müthel scheint dort schon durch. Es ist ein lohnendes Werk.

Bester Müthel wird im zweiten Variationswerk in F-Dur geboten, Tempo di Minuetto con (10) Variazioni per il Cembalo solo. Dieses Werk entspricht qualitativ den beiden gedruckten Ariosi con Variazioni. Es setzt sogar diesen noch ein „i-Pünktchen“ drauf: die Abschlussvariation ist eine freie Fantasie (un poco Adagio) im Stil CPE Bachs: vom Anfang bis zum Ende gibt es keinen Taktstrich,  dafür jedoch Müthels Clavierstil in Perfektion. Hat er diese Fantasie in Kenntnis der CPEB-Fantasien geschrieben, oder sozusagen selbst entwickelt? Clavierspieler, die bedauern, dass es von Müthel keine „echte“ Clavierfantasie gibt: hier haben sie eine, „per il Cembalo solo“, in höchster Vollendung, wenn Derartiges je einmal gedruckt werden würde.

Das Allegro in D-Dur zeigt wiederum einen anderen Müthel. Hier hat er wohl einen Blick in südlichere Gefilde geworfen. Die dynamischen Angaben: zu Beginn „piano“, mit der aufsteigenden Melodie „crescendo il forte“. Dieses ist bei den Spitzentönen erreicht. Für das „bergab“ ist dann ein „decrescendo“ vorgeschrieben, wen wundert es? Es ist also eine „Mannheimer Rakete“ für das Clavier. Eine weitere Annäherung an den süddeutschen Clavierstil sind die auftretenden Albertibässe über mehrere Takte. Von dem Aufbau her gesehen ist es ein Sonatensatz: Exposition, Doppelstrich, Durchführung, Reprise. Wollte Müthel hier etwas ausprobieren? Brauchte ein Schüler ein Beispiel süddeutscher Claviermusik, kein gedrucktes war gerade in Riga greifbar? Wir wissen es nicht. Eine Spitzenleistung ist dieses Werk nicht.

Das Divertimento in B-Dur ist teilweise ähnlich geschrieben. Im 1. Satz wähnt man sich in Süddeutschland: schöne Melodie, Albertibässe. In Satz 2 und 3 (Andante in g-moll; Allegro) befindet man sich wieder im Norden.

Menuette, Märsche, Sonstiges: diese Werke können kürzer abgehandelt werden. Sie sind gut gesetzt, schön, jedoch nichts Weltbewegendes. Sie sind offensichtlich Gelegenheitswerke. Bei etlichen dieser Menuette entsteht unwillkürlich der Eindruck, dass sie Clavierreduktionen von Orchestermenuetten sind, vor allem, wenn in einem Autograph acht Menuette in D-Dur hintereinander gebracht werden. Den Tänzern war die Tonart unwichtig, Spielern und Hörern vergeht irgendwann dabei die Lust und Freude.

Abschließend: Müthel ist neben CPE Bach der genialste Schüler Bachs. Die sehr viel geringere Anzahl im Vergleich zu CPE Bach an erhaltenen Kompositionen zeigen ihn als einen grandiosen Klaviervirtuosen und Improvisator, etwas exzentrisch, etwas überdreht, aber genial. Wer sich seinen Werken spielend oder hörend nähert, sollte sich mit Geduld und Fleiß wappnen. Einfach zu spielen und zu interpretieren ist er nicht.