Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Wilhelm Christoph Bernhard

Wilhelm Christoph Bernhard, geb. 1760 zu Könitz/Saalfeld, gest. 1787 in Moskau. Über seine musikalische Ausbildung in der Jugendzeit ist kaum etwas bekannt. 1779 immatrikulierte er sich an der Universität Göttingen (als pauperrimus gratis), was auf eine bescheidene Herkunft hinweist.

Da alle Nachrichten über ihn aus der Hand Forkels stammen ist sehr zu vermuten, dass er auch dessen Schüler war. Forkel schreibt, dass Bernhard sich "durch das Studium der Johann Sebastian Bachschen Werke zu einem wahren großen Clavier- und Orgelspieler gebildet, und sich dadurch zugleich als Componist in dem ächten hohen Styl der Musik hineingearbeitet"....."dessen Größe vielleicht nur von wenigen erkannt wird", so Forkel nach Bernhards frühem Tod 1787.

1785 gibt Bernhard im Selbstverlag bei Hummel/Berlin, Amsterdam und Breikopf/Leipzig "Ein Praeludium und drey Sonaten für Clavier heraus (in F, B, C, G), und widmet sie dem Kammerrat Schuth von Schutdorf im Oldenburgischen. Interessant ist, dass Bernhard vorab einige Proben dieser Stücke den Komponisten CPEB, Reichardt, Schulz und Haydn zuschickte. Danach hat CPEB pränumeriert. Das spricht für ihre Qualität.

Derartige Mitteilungen, obwohl sehr knapp gefasst, stimmen neugierig, lange Jahre jedoch ohne jegliches Ergebnis. Unvermutet entdeckte ich im Bestandskatalog des Archivs der Singakademie Berlin einen Eintrag: den o.a. Druck der Clavierwerke Bernhards. Also nichts wie hin, die microfiches bekommen und kopiert. Ich darf hier versichern, es hat sich gelohnt.

Viele werden denken: naja, Claviermusik um 1785 in Göttingen komponiert, Forkelschüler, guter Bachinterpret, was wird dabei herauskommen? Dem genialen norddeutschen Clavierkomponisten CPEB nacheifern, vielleicht eine Prise Müthel, JSB? Oder gar wie die Clavierwerke Forkels?

Der erste Blick auf das Praeludium in F belehrt einen sofort etwas anderes. Von wegen CPEB nacheifern, nichts davon. Es ist in Form und Aubau eine 2-stimmige Invention, zweiteilig, aber viel ausgedehnter, schon wegen einer längeren Durchführung nach dem Doppelstrich. Also ein Praeludium in Sonatenform., inklusive harmonischer Überraschungen. Für Spieler ist dieses Stück technisch gesehen recht heikel, es wird einiges abverlangt, schon weil der vorgegebene 12/8 Takt ein rasches Tempo einfordert. In diesem Praeludium wird Forkel mit Sicherheit den "ächten, hohen Styl der Musik" wiederentdeckt haben.

Es folgt die 1. Sonate in B-Dur. (1. Satz: n.b.; 2.Satz (g-moll): Largo; 3.Satz (Es-Dur): Tempo di minuetto; 4. Satz: Rondo.

Es ist also keine typisch norddeutsche "klassische" Sonate mit den üblichen drei Sätzen. War Bernhard ein "Modernist"? Kannte er süddeutsche Werke? Es sieht sehr danach aus: ein Menuett als 3. Satz, danach ein Schlussrondo. Bei CPEB sucht man dergleichen vergeblich. Der erste Satz der Sonate bestätigt diesen Eindruck. Das Eingangsthema ist nicht "typisch" norddeutsch, die harmonischen Schroffheiten bleiben aus, nach 29 Takten erfolgt der Doppelstrich.

Der erste Teil der Durchführung (22 Takte) verharrt über mehrere Takte in es-moll, und führt zu einer "falschen" Reprise: das Hauptthema wird vier Takte in der Grundtonart B-Dur zitiert, ist jedoch Startpunkt des 2. Teils der Durchführung, der virtuoser gestaltet ist. Die "echte" Reprise beginnt in der Subdominanten, nachdem der Spieler eine taktfreie Kadenz ausfüllen darf. Bernhard hat Geschmack bewiesen und eine Schwäche der süddeutschen Claviermusik umgangen: die elenden "Albertibässe" sucht man vergebens. Mit dem "Modernismus" ist jedoch sofort Schluss, nämlich im:

2. Satz, Largo, 3/8, g-moll. Der Satz wird im "fortissimo" pathetisch eröffnet inklusive sprechender Pausen, punktierter Noten, chromatischer Schärfen, die Häufung von 32tel Noten für beide Hände fehlen auch nicht, also Norddeutschland pur. Der Satz umfasst 44 Takte, nach Takt 42 ist pflichtgemäß eine Kadenz eingeschoben. Es ist Musik auf höchstem Niveau.

3. Satz, Tempo di Minuetto. Dieser Satz besteht aus aus zwei knappen Menuetten mit jeweils 16 Takten: Menuett 1 in Es-Dur, schön, knapp, dem Geschmack der Zeit entsprechend, und Menuett 2 in c-moll. Dieses ist etwas finster und harmonisch scharf.

Der 4. Satz ist ein Rondo. Wieder erfolgt, wie schon zuvor, der Blick auf die Rondos von CPEB, und wieder kommt die Feststellung, dass Bernhard diese nicht als Vorlage benutzt hat. Er schreibt seinen eigenen Stil, ausgewogen, filigran, harmonisch aufregend und teilweise virtuos. Dieses Rondo hat aber auch nichts mit den "Kehraus"-Rondos süddeutscher Provenienz zu tun. Bernhards beide überlieferten Rondos sind Unikate, aber geniale.

Das Erstaunliche an dieser Sonate ist jedoch, dass hier die erst später durch Beethoven "normativ" gewordene Viersätzigkeit schon völlig ausgeprägt vorliegt: gemäßigt - schneller Eröffnungssatz, langsamer Satz, Minuetto (bei Beethoven meist Scherzo), schneller Schlusssatz als Rondo. Könnte es sein, dass Beethoven als Haydnschüler in Haydns Notenarchiv recherchieren durfte? Dort hätte er nämlich die Bernhardwerke vorgefunden. In der Subskribentenliste dieses Opus steht: "Esterhaz, 1 Ex., Hr. Capellmeister Haydn." Möglicherweise hat Beethoven bei seiner Stöberei auch einen Blick auf den zweiten in F-Dur und im Dauerforte stehenden Rondoeinschub geworfen und diesen sehr goutiert.

Bernhards 2. Sonate steht in C-Dur und beginnt, was selten, mit einem Rondo (Andante). Dieses Rondo steht auf einer sehr ähnlichen Grundlage wie das Rondo der 1. Sonate: eigener Stil, filigran, eigenwillig, genial.

Der 2. Satz in a-moll (Adagio) führt uns wieder nach Norddeutschland. Er ist nicht ganz so pathetisch wie der langsame Satz aus der 1. Sonate, jedoch trotzdem Musik auf höchstem Niveau.

Den Abschluss dieser Sonate bilden Menuett 1 und 2 F-Dur). Sie sind kurz und knapp gehalten und fallen qualitativ doch etwas gegenüber den anderen Sonatensätzen ab.

Bernhards 3. Sonate (G-Dur) wird mit einem breit angelegten Adagio eröffnet und wieder werden wir nach Norddeutschland entführt. Bei diesem Satz könnte vermutet werden, dass Bernhard doch einen Blick auf Müthels langsame Sätze geworfen hat, denn es wird nichts ausgelassen: Pathos, gehäufte 64-tel, eine technische Herauforderung, aber höchste Qualität.

Der 2. Satz besteht aus Menuett 1 (D-Dur) und 2 (d-moll). Beide Menuette sind knapp gehalten, jeweils 16 Takte, und fallen nicht aus dem Rahmen.

Bernhard schließt seinen Werkezyklus mit einem Presto ab. Es ist ein relativ kurzer Satz, voller Humor, sozusagen ein augenzwinkernder Abschluss. Er steht auf höchstem Niveau.

Zeitgenossen ist die hohe Qualität der Bernhardschen Clavierwerke schon aufgefallen. So schreibt Cramer 1784 aus Hamburg:" Wir haben hier einen wenig bekannten, aber sehr großen Clavierspieler, der auf dem erhabensten Wege ist, den nur ein Musiker gehen kann: Bernhard, ein noch junger Mann, aus Saalfeld gebürtig. Seit 5 oder 6 Jahren hat er, man könnte sagen, in seine Clause beynahe eingemauert, und unter allen Mühseeligkeiten des Lebens, nichts als die Werke des größten Harmonikers, der nur unsere Welt aufweisen kann, die Weke Johann Sebastian Bachs studirt. Nicht nur sie mit allen ihren außerordentlichen Schwürigkeiten auf dem Clavier und der Orgel herauszubringen, sondern auch den reinen Satz sich ganz  eigen zu machen, war e5r mit unglaublichen Fleiß bemüht.......Seine Kunst und sein edles Herz verdienen das größte Glück."

Unter von Eschstruth:"Bachschüler und Bach-Spieler" ist 1785 zu lesen: " Herr Candidat Bernhard in Göttingen, ein Mann der Sebastian Bachs schwerste Claviersachen mit Präcision und Geschmack vorträgt, gibt auf Michaelis d.J. einige Clavier-Compositionen bei Breitkopf in Leipzig heraus".

Die Göttingische Anzeigen schreiben 1785 (Verfasser möglicherweise Forkel): "Hier ist auf Vorausbezahlung herausgekommen: Ein Präludium und drey Sonaten fürs Clavier von Wilhelm Christoph Bernhard. Wir zeigen dieses musikalische Werk nicht blos deswegen an, weil es die Arbeit eines jungen Mannes ist, der mehrere Jahre bey uns gelebt, und sich unter uns gebildet hat, sondern hauptsächlich deswegen, weil es für Kenner der Kunst ungemein viel innern Werth hat. Das Präludium ist ganz im Geist und Geschmack des sel. Joh. Sebastian Bach gearbeitet, dessen Werke der Verf. vorzüglich geliebt und studirt hat. Es ist eine Art Meisterstück...

Fazit: Bernhard konnte sehr "fortschrittlich" schreiben. Seine Basis war norddeutsch, CPEB beeinflusst, ohne diesen jedoch nachzuahmen. Er ist seine eigenen Wege gegangen. Um sicher zu gehen hat er vor Drucklegung dieses Opus zwei Exemplare an zwei Komponisten gesandt: CPEB und Joseph Haydn, für ihn wohl die herausragenden Representanten der Claviermusik. Beide Komponisten haben subskribiert. Fehlt uns ein Name? Ja, der Mozarts! Über die Gründe könnte man ins Grübeln geraten.

Schade, dass Bernhardt so jung gestorben ist. Für uns ist es jedoch ein Hinweis, sich mit seiner Musik intensiver zu beschäftigen. Ein kleiner Schritt in diese Richtung ist immerhin vollbracht: Miklos Spanyi hat bei den Clavichordtagen 2015 in Hechingen zwei Werke Bernhards vorgetragen: das Praeludium F-Dur und die Sonate B-Dur. Hier ein Auszug aus der Rezension:

"Ein weiterer, weitgehend unbekannter Komponist ist Wilhelm Christoph Bernhard (1760–1787). Höchstwahrscheinlich war er ein Schüler von Johann Nikolaus Forkel und schon zu Lebzeiten als sehr guter Interpret der Werke Johann Sebastian Bachs bekannt. Bernhard studierte in Göttingen und wurde auch hier als Universitätsorganist Nachfolger von Forkel. 1785 brachte er im Selbstverlag ein Präludium in F-Dur, sowie drei Sonaten für Clavier heraus. Das von Miklós Spányi hier gespielte Präludium erinnerte stark an eine zweistimmige Invention von Johann Sebastian Bach – nur viel, viel länger und voller harmonischer Überraschungen. Die anschließend zu hörende Sonate in B-Dur steht ganz im galanten Stil, viersätzig angelegt, was zu dieser Zeit bereits ein Novum war, mit der Satzfolge: Allegretto – Largo – Tempo di minuetto – Rondo. Bernhards Tonsprache war der Norddeutschen Tradition verhaftet, aber ebenso waren ihm die süddeutschen Komponisten ein Vorbild. Ohne irgendwie epigonal zu wirken, schaute er sich die Kompositionsweisen seiner Vorbilder an, ging dann aber seine eigenen Wege. Man kann durchaus behaupten, dass, wenn Bernhard nicht schon so früh gestorben wäre, die Musikgeschichte mehr Notiz von ihm genommen hätte. Ein Komponist, den es lohnt (wieder) zu entdecken. Miklós Spányi atmete hier förmlich die Musik und das Publikum war gebannt von der Dichte ihrer Klänge".