Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Johann Wilhelm Hässler

Hässler, 1747 in Erfurt geboren, 1822 in Moskau gestorben, sollte, da Neffe und Schüler JC Kittels mit in den Umkreis der nord/mitteldeutschen Klaviermusik einbezogen werden, zumindest, was seine in Deutschland komponierten Werke betrifft. Eine Reise führte Hässler 1771 über Göttingen (Forkel) nach Hamburg. Dort entdeckte ihn CPEB in einem Gasthof beim Spielen Bach´scher Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Clavier...und war begeistert. Hässler verbrachte elf Tage mit ihm.

Dann zog er 1790 nach London, 1792 nach St. Petersburg/Moskau, wo er 1822 als hochgeachteter Komponist und Klavier/ Orgelspieler starb. Hinzu kommt noch, dass er ein Oeuvre hinterlassen hat, welches teilweise zur "Spitzenklasse" der Klaviermusik aus der Zeit zählen sollte. Eine "Wiederentdeckung" wird dies rasch zeigen. Die jetzigen Notendrucke seiner Klavierwerke sind ein Hinweis darauf.

Dass Hässler einen durchaus kritischen Geist besaß zeigt sich in folgender Anekdote: sein Sohn Carl Elias wollte 1817 in Hamburg die Werke seines Vaters neu veröffentlichen. Hässlers Antwort:

- pro primo lässt er es nicht zu, weil er noch so vieles in petto habe.

- pro secundo müssen die mit einer Art von Raserei gekauften Dussekschen, Steibeltschen, Fieldschen etc. Schmierereyen und Klimpereyen verloren haben, ehe man Geschmack an meinen ernstlich unterrichtenden Kompositionen finden wird. (wen wundert es bei seinem Kompositionsstil)

- pro tertio et ultimo: abwarten, bis Dein Vater in 6 Brettern und 2 Brettchen sanft und selig ruht.

 

Hässlers Clavierwerke

  • 1776: Fantasie in c; 6 Sonaten: C; G; B; D; F; a (Schönberg Sonaten)
  • 1779: 6 neue Sonaten: B; A; g; C; d; Es
  • 1779: 6 leichte Sonaten: G; A; d; B; F; C (Richter Sonaten)
  • 1781: Clavier-und Singstücke, Teil I,II (v. Keller)
  • 1785-1790: Leichte Sonaten. teilweise mit weiteren Instrumenten, 4 Teile
    • Teil 1: Sonaten in Es; C; F; D; e
    • Teil 2: Sonaten in F; a; B (vierhändig)
    • Teil 3: ?
    • Teil 4: C; G; C; F; B; Es
  • 1793: op.1 Fantasie und Sonaten, identisch mit Schönberg Sonaten; verlegt in Moskau
  • 1793: op.2 Caprice et Sonate (Boutourlin Sonate)
  • 1793: op.3 Fantaisie et Sonate
  • 1793: op.4 Fantaisie et Sonate in C (Kiriloff Sonate)
  • 1793: op.5 Caprice et Sonatein c/C (Pestel Sonate)
  • 1798: op.6 Prelude et Sonate in g/G (Czernicheff Sonate)
  • 1799: op.7 Ariette avec 30 Var. (gewidmet Frau Weidenhammer)
  • 1799: op.8 6 Parties: g; C; A; D; B; Es (Frau Moscvina gewidmet)
  • 1793-1795: op.9 Chanson russe variee 12/14 Variationen)
  • 1799: op.10 Prelide et Ariette variee (Frau v. Ermolajeff gewidmet)
  • 1799: op.11 3 Preludes et 3 Ariettes variees (Fürstin Kourakin gewidmet)
  • 1799: op.12 Grande Sonate für 3 Hände (Stchepotef Sonate)
  • 1800: op.13 3 Sonaten (Lieven Sonaten)
  • 1800: op.14 3 Sonaten (Kavansky Sonaten)
  • 1801: op.16 3 Sonates expressives: E; A; D (Kaiserin M.Feodorowna Sonaten)
  • 1801: op.17 Fantaisie et Sonate (Tolstoy Sonate)
  • 1801: op.18 Praeambule et Sonate (Zizianoff Sonate)
  • ?: op.19 Fantaisie et Sonate (Loukin Sonate)
  • ?: op.20 Sonatine für 2 Claviere (Benckendorf Sonatine)
  • ?: op.21 2 Sonates
  • ?: op.22 Caprice et Chanson russe variee (Frau v. Naoumoff gewidmet)
  • : op.23 3 Sonaten (Raevsky Sonaten)
  • 1806: op. 26 Grande Sonate (Pritzelius Sonate)
  • ?: op.27 5 Pieces caracteristiques (Favilli gewidmet)
  • ?: op.28 4-händige Sonate (verschollen)
  • ?: op.29 Etuden (24 Walzer)
  • ?: op.30 Prelude et Chanson allemande variee (Frau v. Karassin gewidmet)
  • ?: op.31 Grande Gigue
  • 1813: op.32 3 Sonates expressives (Scheremetoff Sonaten)
  • 1814: op.33 2 Grandes Sonates (Bartnieff Sonaten)
  • 1814: op.34 Caprice, Divertissement, Romanze, Presto (Frau v. Rosenstrauch)
  • 1814: op.35 2 neue Fantasien, 2 alte Sonaten (seinen Schülern gewidmet)
  • 1815: op.36 Fantaisie et Sonatine, 4-händig
  • 1815: op.37 3 Parties
  • 1815: op.38 50 Stücke für Anfänger
  • 1816: op.41 Symphonie brillante et 2 Sonates (v. Benckendorf gewidmet)
  • 1816: op.43 3 Sonaten
  • 1816: op.44 2 Sonaten
  • 1816: op.45 6 Sonatinen
  • 1816: op.46 32 Pieces progressives
  • 1817: op.47 360 Preludes in allen Tonarten
  • 1817: 3 Sonaten (verschollen)
  • 1820: Etuden (24 Walzer)

Hässlers Klavierwerke sind überwiegend zeitnah im Druck erschienen. Sein Erstlingswerk, 6 Sonaten, 1776 der Gräfin Schönberg gewidmet eröffnet er, wie sein Lehrer Kittel, mit einer Fantasie. Sie steht in c-Moll. Wegen der dynamischen Angaben, von pp bis ff, inklusive einem Hinweis "crescendo il forte" ist ein Cembalo als Instrument nur mehr sehr bedingt einsetzbar.

Diese Fantasie ist noch keine "freie Fantasie", wie sie von CPE Bach bekannt ist, denn es herrscht eine klare Dreiteilung vor, die an Toccaten norddeutschen Typs oder JS Bachs erinnert. Der erste Teil ist "frei" gestaltet, "umherschweifend", harmonisch instabil, rezitativisch, "resignativ". Er endet in der Dur-Parallele Es. Es folgt ein langer "polyphoner" Teil, harmonisch klar definiert, ohne größere Überraschungen, auch mit den üblichen Sequenzenfolgen, die jedoch gegen Ende chromatisch verschärft werden. Abrupt endet dieser Teil akkordlos in F (mit Fermate). Der letzte Abschnitt besteht aus 10 Takten, und sie sind das Erstaunliche: kein wilder Schluss, kein lichter Dur-Ausklang, sondern ein tief resignativer Abschluss, Andante und piano. Das ist 1776 neu und vorbildhaft:

Der Spieler sollte sich auf einige Nickeligkeiten gefasst machen, es lohnt sich. Werden diese beherrscht, verfällt man schnell in einen "Spielrausch".

Die folgenden Sonaten sind formal "norddeutsch". Hässler ist jedoch recht experimentierfreudig und hält sich nicht starr an die vorgegebene Form (wie viele seiner dann doch unbedeutenden Zeitgenossen) oder Inhalte.

In seinen später geschriebenen Sonaten beschreitet Hässler eigene Wege: den Versuch, süddeutsche "Sonatenelemente", vor allem die der Themenbildung in die "norddeutsche" Sonate zu integrieren. Den ungekehrten Weg ist bekanntlich J. Haydn gegangen. Seine Sonaten dürften Hässler bekannt gewesen sein. Bei all diesen vergleichenden Aussagen darf nicht vergessen werden, dass Hässler nie zu einem Plagiator degeneriert, sondern ein eigenständiger Komponist war, der auch wusste, wie effektvolle Klaviermusik zu schreiben ist. Das Beispiel der Sonate in Es-Dur aus den "Sechs leichten Sonaten fürs Clavier oder Piano-Forte" aus dem Jahr 1785 soll das verdeutlichen.

Ein Satzanfang wie dieser:

wäre in einer "klassisch" norddeutschen Sonate undenkbar. Spieler und Hörer hingegen freuen sich. Jegliche Müdigkeit ist in vier Takten weggefegt. Die Fortspinnung verarbeitet Themenpartikel (ein zweites Thema ist in weiter Ferne), und nach 21 Takten ist die Exposition beendet: Doppelstrich. Die Durchführung kommt sofort zur Sache: schlagartig wechselt die Tonart von B-Dur in g-Moll, und ab geht es mit der polyphonen Verarbeitung des Fortspinnungsteils. Nach 18 Takten Durchführung folgt die Reprise. Gesamtlänge dieses Satzes: 62 Takte (ohne Wiederholungen zu zählen). Sie sehen, ein Sonatensatz kann auch kurz und knapp sein, ohne dass ihm etwas fehlt. Dem freudigen, festlichen 1. Satz setzt Hässler sofort einen herben Dämpfer auf: der 2. Satz, ein Andante, steht in es-Moll, einer von Spielern nicht so beliebten Tonart. Dieser Satz ist von tiefer Traurigkeit, ja Resignation durchzogen, wie das Notenbeispiel zeigt.

Das einzige Thema wird leicht variiert, und erscheint abwechselnd in der Oberstimme, danach im Bass. Der Schluss dieses Satzes wird durch einen viertaktigen Orgelpunkt herbeigeführt, über dem die Oberstimme chromatisch abfällt, um im leeren Es zu enden. Trostloser, resignativer gehr es kaum noch. Noten. Im 3. Satz nähert sich Hässler Haydn: ein Allegro non tanto, fast in Form eines Rondos, vereinzelt tauchen Albertibässe auf, aber auch durchsichtige Polyphonie. Sogar eine viertaktige Coda wird angehängt:

Hier hat sich Hässler fast völlig von dem norddeutschen Satztyp entfernt, jedoch nicht zum Nachteil der Sonate: nach freudiger Einleitung folgt Resignation, um mit einem friedvollen Ausklang zu enden. Spielern und Hörern wird einiges geboten.

Hässler liebt es, mit den stilistischen Gegensätzen zu spielen. Ein weiteres typisches Beispiel hierfür ist die Sonate in a-Moll aus dem zweiten Teil der "Sechs Sonaten fürs Clavier oder Forte-Piano" 1787. Präsentiert sich das Eingangsmoderato typisch norddeutsch:

folgt darauf ein "Andante con grazia" in A-Dur

welches direkt in Wien hätte geschrieben werden können. Das abschliessende "Allegro assai" ist ein auskomponierter Wutanfall, welcher ohne Halt bis zum bitteren Ende durchgeführt wird.

Hässler war als "Fantasierer" bekannt und berühmt, auch auf der Orgel. Seine frühe Fantasie in c ist ja schon angeführt worden. 1801 veröffentlichte er wiederum eine Fantasie. Sie dürfte wohl eine der letzten vom Typ "norddeutsche Fantasie" sein, mittlerweile war alles gesagt, was zu diesem Thema zu sagen war. Diese Fantasie ist, wie zu erwarten, technische sehr anspruchsvoll, erfüllt aber noch einmal alle Erwartungen, die in derartige Fantasien gesetzt werden:

Es lohnt sich jedoch, Hässlers "russische" Kompositionen näher anzusehen. Da kommen erstaunliche Ergebnisse zutage:

  • bis 1802 wird auf den Drucken der Clavierwerke als Instrumente "pour le Clavecin ou Fortepiano" angegeben. Das Cembalo war (verlaufstechnisch) noch ein Argument. Erst danach wir nurmehr das Fortepiano aufgeführt.
  • Die Werke werden mit Opusnummern bezeichnet, von Hässler, unabhängig von den Verlagen.
  • Ein Großteil der veröffentlichten Werke besteht aus Sonaten (mit Widmungsträgerinnen). Es besteht folglich die Möglichkeit, diese Sonaten in Form und Inhalt mit den Werken Hässlers Zeitgenossen, so auch Haydn, Mozart, Beethoven zu vergleichen. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

a) Die uns ach so bekannte "klassische" Sonatenform (3-sätzig, schnell, langsam, schnell) kann man in den meisten Fällen getrost vergessen. Häufig leitet Hässler seine Sonaten mit einer Fantasie oder einem Caprice ein. Das haben zwar schon sein Lehrer Kittel und er selbst getätigt, jedoch in Form einer Fantasie als Vorspann für einen Sonaten 6er-Pack. Nun bekommt jedoch fast jede Sonate eine derartigen Vorspann.

b) Auch weitere "klassische" Sonatenformalien, wie Tonartenfolgen, Durchführungen, werden nicht wie gewohnt gehandhabt. Hässler setzt da andere Maßstäbe. Zur Untermauerung des Geschriebenen werden folgende Sonaten untersucht: op.3; op.4; op.5; op.6; op.8; op.16.

- op.3: Fantasia (f-moll) - Sonata, Allegro alla Polacca (F-Dur), Allegro di molto (g-moll) im Wechsel mit Andante, Allegro quasi Presto (F-Dur). Die Fantasia leitet, "un poco largo" in 13 Takten mit gebrochenen Akkorden zur Dominante C-Dur. Es folgt die "Sonata" in F. Das Thema wird in 16tel und in 8 Takten vorgestellt, danach wird es mit vertauschten Stimmen wiederholt, der Doppelstrich erfolgt nach 16 Takten...aber in F-Dur! Der 2. Teil dieses Satzes umfasst auch 16 Takte, Passagenwerk, chromatische Abweichungen, der 2. Teil des Themas wird plötzlich kanonisch geführt, der Schluss ist wiederum in F-Dur (mit Doppelstrich). Hässler fügt jedoch einen 3. teil hinzu, diesmal 15 Takte, wovon jedoch 5 in "Andante" stehen, in denen um das F mit unterschiedlichsten Harmonien gekreist wird. Dieser Teil endet wiederum in F-Dur, aber "un poco Adagio"(ohne Doppelstrich). Der 2. Satz startet finster, "Allegro di molto", in g-moll, um dann im "Andante" und "dolce" 3 Takte fort zu fahren. Die 2 Takte "Allegro di molto" werden in d-moll wiederholt, damit das "Andante den Satz in 30 Takten beenden kann. Er steht aber ab da weder in g, noch in d-moll, sondern b-moll! Auf diesem Ton endet auch der Satz, ohne Bass. Der letzte Satz (Allegro quasi Presto) ähnelt im Aufbau dem 2. Satz. Ein wildes Passagenwerk (für den Spieler kommt da Freude auf) in F führt nach 16 Takten zum Doppelstrich, wiederum in F. Der 2. Teil des Satzes ist 44 Takte lang, davon 5 "senza tempo", gespickt mit üppigen Passagen, um in F zu enden (mit Doppelstrich). Nach der Wiederholung ist jedoch nicht das tiefe F zu spielen, sondern im fortissimo das tiefe Es, und weiter geht es mit dem 3. Teil, 33 Takte lang, in denen das Passagenwerk noch etwas gesteigert wird. Die "Sonate" endet abrupt und seltsam: im staccato und fortissimo werden der höchste und tiefste Ton des damaligen Tasteninstruments angeschlagen, und aus ist.

Tja, lieber Leser, und wo bleibt da die "klassische" Sonatenform? Von dieser ist doch nur mit geistigen Verrenkungen etwas zu entdecken.