Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Johann Otto Uhde: Musikalisches Mancherley und seine Geheimnisse

Im Jahre 1762 veröffentlichte der Berliner Verleger George Ludewig Winter einen Sammelband unterschiedlicher Musikwerke wie Gesangsstücke (Arien, Lieder), Clavierwerke (Sonaten, Charakterstücke, freie Werke), Kammermusikwerke (Sonaten, Triosonaten), selbst ein Orchesterwerk ist dort zu finden. Derartige Bände waren in der Zeit nichts Außergewöhnliches, der Liebhabermarkt sollte befriedigt werden.

Als "Tutoren" dieses Bandes hat sich Winter vermutlich CPEB, möglicherweise in Zusammenarbeit mit JF Agricola herangezogen, von denen dann auch etliche Werke (für Clavier, aber auch die Soloflötensonate Wq.132) gedruckt wurden.  Die weiteren Komponisten entstammen dem bekannten Berliner Kreis, also Agricola, Kirnberger, CFC Fasch.

Außergewöhnlich ist hingegen, dass die meisten dort veröffentlichten Kompositionen KEINEN Komponistennamen anführen, eine Tatsache, die bei ähnlichen Bänden nicht zutrifft. Was war da geschehen? Ein Druckfehler? Vergesslichkeit? Zufall? So mal eben vom Himmel gefallen? Die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens dürfte äusserst gering sein.

Es gibt jedoch einen Hinweis, der zu dem Namen des(r) "namenlosen" Komponisten führen könnte. Eröffnet wird das "Musikalische Mancherley"  durch einen Vorbericht, der das Ziel dieser Veröffentlichung erläutert. Es folgt eine kurze Einführung in die Oper "Temistocles", Textdichter der bekannte Metastasio. Der Komponist (es gab sicherlich mehrere) dieser Oper für Berlin wird wiederum nicht benannt. Dieser dürfte wohl zumindestens den Berlinern bekannt gewesen sein. Sein Name: Johann Otto Uhde (1725 - 1766), geboren zu Insterburg/Ostpreussen, Sohn eines Hofgerichtsrates. Er wurde auch Jurist und erhielt die Stellung eines Hof- und Kammergerichtsrates in Berlin, wo er auch verstarb. Trotz Juristerei liessen seine Eltern ihm eine vorzügliche musikalische Ausbildung zukommen, Violine bei Simunetti, Clavier/Komposition bei Schaffrath.

Eine Arie aus jener Uhde-Oper eröffnet das "Musikalische Mancherley" (weitere folgen danach). Wer diese Oper gehört hatte, kannte folglich auch den Komponistennamen, der nicht genannt wird. Könnte es sein, dass alle weiteren Kompositionen ohne Komponistenangabe von Uhde stammen? Weder CPEB, noch Kirnberger, Agricola, Fasch hätten es bei diesen Stücken nötig gehabt, ihren Komponistennamen zu verheimlichen. Sie sind ausnahmslos von hoher Qualität. Uhde hingegen hatte Gründe: kein Berufsmusiker, "ein preussischer Hofrat komponiert nicht für die Öffentlichkeit", das Kritikergeläster war schon damals wie heute. Könnte es sein, dass CPEB/Agricola diese Clavierkompositionen Uhdes veröffentlichen wollte, weil er sie für gut befand, Uhde zustimmte unter der Bedingung der Anonymität? Wir wissen es nicht, aber es wäre eine plausible Erklärung dieses Rätsels. JF Agricola hat sich sehr lobend über die musikalischen Fähigkeiten Uhdes (Genie! obwohl "Dilettant") geäussert ""der am 20. Dezember 1766 durch den Tod entrissene Rechtsgelehrte, der zugleich erfindender uns ausführender Tonkünstler gewesen sei".

Nun zu jenen "anonymen" Werken im "Mancherley", es sind viele: vier Claviersonaten (e-moll,  D-Dur (Gartensonate), e-moll, f-moll), 16 freie Stücke, häufig in einer Molltonart, sieben "Charakterstücke" und etliche kleinere Werke. Schon vor Jahren fiel mir bei dem Durchspielen von Clavierwerken, veröffentlicht in einem kleinen Notenheft des Noetzelverlags unter dem Namen "CPE Bach, Musikalisches Mancherlei" auf, dass die dortigen letzten beiden Stücke (Allegro c-moll; Allegro (richtiger: Andante) f-moll) doch sehr untypisch für den Kompositions/Clavierstil CPEB´s sind. Natürlich, CPEB hätte problemlos derartig hochwertige  Stücke komponieren können, aber sie passten nicht so richtig in mein Vorstellungsvermögen. Wie ich heute weiss, zu Recht. Der Herausgeber hat sie, wahrscheinlich wider besseren Wissens, unter CPEB abgebucht.

Einen weiteren Hinweis erbrachte der Band 11 aus der Kopenhagener Bibliothek des Bendix Zinck (s. dort). Neben den vielen, völlig akkurat mit Vollnamen versehenen Stücken befinden sich dort  zwei freie Stücke mit dem Komponistennamen "JOU". Die Wahrscheinlichkeit, dass sich dahinter Johann Otto Uhde verbirgt ist sehr groß. Aber auch hier: kein Vollname!

Das "Mancherley" beginnt mit einem Rezitativ/Arie aus der Oper "Temistocles" ohne Komponistennamen, aber bekanntlich von Uhde, gefolgt von einer Claviersonate CPE Bach´s (g-moll, Wq. 62,18). Danach tritt ein "Charakterstück" in fis-moll auf den Plan, ohne Komponistenangabe, genannt "La Spinoza". Hier nun ein Auszug eines Briefes von Christian Gottfried Krause an Johann Ludwig Gleim: "Ich habe Sie darum und sonderlich um den Tractat des Spinosae, Tractat "Theologicae politicus" gebeten, der dabey war und der nicht mir sondern Herrn Uhden gehört"..... "Ich habe ausdrücklich deswegen einen Brief von H. Uhden hieher erhalten". Könnte es sein, dass sich Uhde nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch mit den Thema befasst hat?

Von den vier "namenlosen" Sonaten im "Mancherley" werden zwei, die Gartensonate in D-Dur und die zweite e-moll-Sonate in Helms "thematischen Katalog" aufgeführt unter zweifelhaft und "möglicherweise authentisch" (H.359; H.339). Es sind verführerische und nachvollziehbare Hypothesen, die jedoch bei näherer Betrachtung nicht standhalten. Was hätte CPEB veranlassen können, neben den vielen namentlich genannten Stücke, darunter auch Claviersonaten, zwei seiner Sonaten unter "anonym" zu veröffentlichen? Ein weiteres Gegenargument ist der Kompositions/Clavierstil dieser Sonaten. Dem Spieler fällt das schon nach kurzer Zeit auf, denn der ist doch recht unterschiedlich. Uhde komponiert traditioneller, konservativer als CPEB, vor allem, was den musikalischen Spannungsaufbau/abbau betrifft. Schroffe harmonische Brüche sind selten, obwohl mit Schärfen nicht gespart wird. Auch sein Clavierstil ist noch traditionell, die linke Hand hat doch mehr zu schaffen. Es ist müßig zu sagen, dass sich Uhde generell an den herrschenden Berliner Kompositions/Clavierstil hält. Die Schülerschaft bei Schaffrath ist manchmal jedoch heraus zu hören. Hier ein Beispiel aus Uhdes Allegro in g.moll:

Nonensprünge, harmonisch gescharft, in der rechten Hand, kontinuierliche Bewegung links, dergleichen findet man bei CPEB nicht. Noch deutlicher wird Uhdes konservative Auffassung hinsichtlich Kompositions/Clavierstil in seinem Allegro-f-moll:

Uhdes vier Sonaten im Mancherley sind typische Berliner Sonaten hinsichtlich Aufbau (3-sätzig), Themenbildung, Durchführung. Aber auch hier macht sich ein "konservativer Zug" bemerkbar: thematische Beteiligung der linken Hand, keine harmonischen Brüche oder Generalpausen, sehr rational. Beispiel: 1. Sonate in e-moll, 2. Satz Adagio:

Die f-moll Sonate ist die umfangreichste der vier Uhdesonaten. Offensichtlich gehörte diese Tonart zu den bevorzugtesten. Neben dieser Sonate stehen noch drei weitere freie Stücke in f-moll, gleich wie sein einzig überliefertes Cembalokonzert.

Die Sonate bietet einige Überraschungen: Albertibässe über doch mehrere Takte (für "Berlin" sehr unüblich), die Durchführung im 1. Satz ist harmonisch erstaunlich gewagt:

Der 2. Satz steht ebenfalls in f-moll, ist polyphon konzipiert und schwierig zu verstehen, während der 3. Satz (Allegretto) Spieler und Hörer traurig-wehmütig verabschiedet, der Tonart angemessen.

Des weiteren befindet sich eine große Zahl an "anonymen" Stücken im Mancherley, mit und ohne Titel. Drei von denen werden mit einer Person bezeichnet (wie meist bei CPEB und CF Fasch), hier "La Spinoza", (mit unterlegtem Text), "La d´Aubarede" und "l´Antoine", andere stellen menschliche Empfindungen dar, wie "Die Verwunderung", "Die jugendliche Freude", "Die Warnung", "Das Klagen zweyer Freunde bey einem Glase Wein bey H***" (mit unterlegtem Text), "Das Locken", "Der Zank" (mit unterlegtem Text), "Zanga" (mit unterlegtem Text), sowie Stücke nur mit einer Tempobezeichnung. Kennzeichen der meisten dieser Stücke ist ein eher konservativer Kompositions/Clavierstil, welcher besonders deutlich in den Stücken mit Tempobezeichnung auftritt.

Fazit:

- die "anonymen" Stücke im Mancherley haben mit großer Wahrscheinlichkeit nur einen Komponisten, dank eines doch recht deutlichen gemeinsamen Kompositions/Clavierstils. Dieser hat wiederum sehr wenig mit dem Stil CPEB´s oder JC Fasch´s zu tun. Da von Agricola nur ein Clavierstück (Sonate F-Dur) überliefert ist, können hier keine Vergleiche gezogen werden

- Mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit ist der Autor dieser "anonymen" Stücke.im Mancherley Johann Otto Uhde.

Wie zu erwarten, ist Uhde recht kümmerlich in der entsprechenden Musikliteratur vertreten, gleich ob MGG oder Grove. Die meisten seiner überlieferten Werke befinden sich in der DSB incl. Singakademie und in der Harvard-Bibliothek/USA. Es sind Konzerte, darunter ein Cembalolonzert in f-moll, Triosonaten, Sinfonien, Kantaten. Weitere Clavierwerke sind dort nicht vorhanden. Vielleicht erbarmen sich Musikwissenschaftler/Interpreten über diesen Mißstand und beschäftigen sich mit Uhde. Es könnte sich lohnen.