Die Schüler Johann Sebastian Bachs

Kollmann, Hachmeister, Bach in England

1799 veröffentlichte August Friedrich Christoph Kollmann (anglisiert: Augustus Frederic Christopher) Kollmann in London sein Buch "Essay on practical musical composition", gespickt mit Beispielen aus JS Bachs Clavierwerken und legte somit einen wesentlichen Grundstein zu einer beginnenden und schnell wachsenden Bach-Rezeption in England.

Wer war nun jener Kollmann? Wer jetzt annehmen sollte, dass der 1756 geborene Kollmann oder sein Vater (geboren 1729) sächsisch/thüringische Landeskinder waren, umgeben von "Bach´schen Kreaturen", irrt sich gewaltig. Nein, sie stammen, wie die Mutter aus Engelbostel (heute Langenhagen), einem Dorf ca 15 km nördlich Hannovers, direkt auf dem Weg in die Lüneburger Heide. Dort war Vater Kollmann Dorfschullehrer und Organist, wie halt so üblich. Sohn Kollmann besuchte die Dorfschule, lernte nebenbei Latein durch den Engelbosteler Pastorensohn, und hatte das Glück, zwei Jahre das hannöversche Lyceum besuchen zu dürfen. 1777 erhielt er Orgel- und Musikunterricht bei dem Haupt- und Marktkirchenorganist Johann Christoph Böttner, einem sicher wackeren Organisten, dessen Bedeutung jedoch nicht über das Lokalkolorit herausragt. 1781 wird Kollmann zum Lehrer und Organisten des Klosters Lüne ernannt, einem jener ehrwürdigen Heideklöster die bis heute noch bestehen. Dieses Amt füllte Kollmann jedoch nur ein halbes Jahr aus, um 1782 zum Organisten an der königlichen, lutherischen Schlosskapelle zu St. James in London berufen zu werden. Welche Beziehungen hinter dieser Berufung standen sind bis heute unbekannt. Diese Kapelle wurde durch die Personalunion England/Hannover ab 1714 erforderlich, um den nach London strömenden Adligen, Beamten aus Hannover und den Ländern der ausschließlich deutschen Ehefrauen der britischen Könige einen deutschsprachigen lutherischen Gottesdienst zu bieten. Dieses Amt füllte Kollmann bis zu seinem Tod 1829 aus.

In o.a. Essay bringt Kollmann viele Beispiele von Musik JS Bach´s, bis hin zu vollständigen Stücken (Präludium/Fuge in C aus dem WTC II; BWV 525, Orgelsonate Es-Dur). Auffallend hierbei ist es, dass es sich fast ausschließlich um Clavierwerke handelt (Ausnahme: Musikalisches Opfer). Weiterhin fällt auf, dass den polyphonen Formen (Fuge, Kanon) ein breiter Raum zugewiesen ist, doch etwas ungewöhnlich für 1799. Natürlich werden auch viele Beispiele aus Werken Händels, CPEB, Graun, Italiener geboten.

Eine wichtige Frage ist bis heute ungelöst: wie kommt ein Kind aus dem "finstersten Niedersachsen" an Werke JS Bachs? Gut, das "Musikalische Opfer" und die "Kunst der Fuge" lagen zu der Zeit schon gedruckt vor. Kollmann konnte, wie auch immer, Zugriff zu diesen Werken gehabt haben. Aber alle weiteren von Kollmann zitierten Bachwerke lagen nur in Handschriften vor. Folgende Alternativen bieten sich an:

  • über CPE Bach, der ab 1768 in Hamburg lebte. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit hierfür eher als gering zu betrachten. Die Namen Kollmann und Hachmeister tauchen nicht ein einziges Mal in der doch recht umfangreich erhaltenen Korrespondenz CPEB´s auf, weder als Schreiber, Empfänger, noch namentlich in den Texten erwähnt.
  • Nikolaus Forkel: es ist bekannt, dass Kollmann und Forkel schriftlich in Kontakt standen, jedoch ab wann? Haben beide auch Notenberge verschickt?
  • Charles Burney: es könnte angenommen werden, dass Burney, der viel gereiste, sehr gut informierte und hellwache Musikkritiker/schriftsteller, dem JSB wahrlich kein Unbekannter war ("Bach´sche Kreaturen"), etwas zur Verbreitung der Musik Bachs, zumindest in England beigetragen hat. Er erhielt sogar 1772 von CPEB eine Handschrift des WTC, Teil 1, als Geschenk. Folgt man jedoch Yo Tomita (Bach-Jahrbuch 1999), muss man sich von dieser Vorstellung trennen. Die Musik Bachs, vor allem seine Fugen, waren Burneys Musik nicht. 1789 startete er sogar seine Angriffe auf Bachs Fugen.
  • JCF Bach: er verbrachte sein Berufsleben in Bückeburg, also nicht sehr weit von Hannover entfernt. Kannte Kollmann ihn? Haben die sich musikalisch ausgetauscht? Nichts ist bekannt.
  • JC Bach: lebte in London, starb jedoch 1782, also in dem Jahr als Kollmann nach London zog. Wahrscheinlichkeit: Null.
  • JC Böttner: kannte dieser Werke JS Bach´s? Falls ja, stellt sich erneut die Frage: wie kommt ein hannöverscher Marktkirchenorganist an handschriftliche Bachwerke heran?
  • Carl Christoph Hachmeister, Kollmanns Onkel mütterlicherseits. Um den sollte man sich etwas mehr kümmern. Dieser, in Engelbostel 1710 geboren, 1777 in Hamburg gestorben, war Onkel unseres Kollmanns da seine Schwester den Vater Kollmanns heiratete. Von seinem musikalischen Werdegang ist bekannt, dass seine Lehrer sein Vater, Organist in Engelbostel, später Carl Johann Friedrich Haltmeier (1698 - 1735), Schlossorganist in Hannover waren. Hachmeister bewarb sich 1734 um die Stelle als Domorganist in Bremen (diese Kirche unterstand Hannover, nicht der Hansestadt), und 1745 als Organist der Stadtkirche in Celle, übrigens als Wettbewerber von Johann Friedrich Schweinitz, einem Bachschüler. 1748 wurde er Organist an Heilig Geist in Hamburg. Was Hachmeister, seit 1734 ausgebildeter, fertiger Organist in den Jahren 1734 bis 1749 betrieben hat, wovon er seinen Unterhalt bestritt, ist bis heute unbekannt. Sein Bewerbungsschreiben 1745 gibt an, er habe "hiesigen Orthes" Musikunterricht erteilt. Hachmeister war auch Komponist. Erhalten sind von ihm zwei gedruckte Werke:
    • Fuga a 6 soggetti in f-moll
    • Clavirübung, bestehend aus einem Menuett mit 50 Veränderungen, beide Werke 1752? 1754? in Hamburg veröffentlicht. Die damalige Musikkritik äussert sich sehr lobend über diese Werke (Marpurg, Gerber).

Wichtig wird jedoch Hachmeister (ob Vater oder Sohn gleichen Vornamens ist bislang nicht zu entscheiden) aus folgendem Grund: Vater oder Sohn waren Besitzer des Originalmanuskripts des Konzerts für zwei Cembali in C-Dur, BWV 1061a (also ohne Orchester) in der Handschrift Johann Sebastians und Anna Magdalena Bachs! Wie Hachmeister (Vater oder Sohn) an diese einmalige Handschrift gelangt ist, entzieht sich bislang völlig unserer Kenntnis. Daraus geht jedoch hervor, dass Kollmann durchaus Zugang zu Bachmanuskripten über Onkel/Vetter Hachmeister gehabt haben konnte. Die Familien standen stets in Kontakt, Vetter Hachmann, Organist in Billwerder, hatte den Essay subsikribiert.

Aber noch aus einem weiteren Grund ist Hachmeister (Vater) wichtig. Kollmann, der mit großer Sorgfalt, enormen Sachverstand seine Musikbeispiele für den Essay auswählte, hat nämlich noch ein drittes Stück neben den beiden von JS Bach dort vollständig eingebracht. Es ist jene "Fuga a 6 soggetti" in f-moll seines Onkels. Die ist nun greifbar, selbst im Internet abzurufen. Ich kann nur anraten, das auch zu tun. Wahrscheinlich wird das Erstaunen darüber sehr groß sein, wie bei mir. Eine derart vollendete, großartige Fuge bekommt man aus dieser Zeit recht selten zu Gesicht, besser gesagt in die Gehörgänge. Schwierig zu spielen, hinterlässt sie den Eindruck, dass Hachmeister seiner Mitwelt zeigen wollte, dass auch andere neben Bach beeindruckende Fugenwerke schreiben können. Hatte er die "Kunst der Fuge" vor Augen, die kurz vorher im Druck erschienen war? Oder hat er davon Teile schon vorher, in einem handschriftlichen Zustand gekannt? Wollte er Bach ein Epitaph setzen? Einiges spräche dafür: die Trauertonart f-moll, Vierstimmigkeit, mehrere Subjekte, im Hauptthema treten die Töne C, H, B, A deutlich hervor. Das Wichtigste jedoch: Hachmeister hat das Hauptsubjekt seiner Fuge Ton für Ton dem WTC; Teil1, Fuge in f-moll entnommen, unter Hinzufügung eines H. Wieder stellt sich die nun sattsam bekannte Frage: woher kannte Hachmeister um 1750 das Wohltemperierte Clavier, von dem es keinen Druck, sondern nur Handschriften gab? Könnte es sein, dass die Liste der unbekannten Bachschüler länger als die der bekannten ist?

Es ist aufschlussreich, die jeweilige doch sehr unterschiedliche Fugenbearbeitung eines fast identischen Themas und identischer Tonart beider Komponisten zu betrachten, wobei zu berücksichtigen ist, dass Hachmeister mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das WTC 1 und diese Fuge kannte.

J.S. Bach

C.C. Hachmeister

 

 Schon das unterschiedliche Notenbild fällt in das Auge: bei Bach ist die Fuge auftaktig, im 4/4-Takt, der Kontrapunkt steht in einem fast "aggressiven" Gegensatz zum ernsten Hauptthema. Auch verzichtet Bach im weiteren Fortgang seiner Fuge auf polyphone Möglichkeiten wie Engführungen, Umkehrungen, uvam. Hingegen schreibt Hachmeister ein Allabreve vor, beginnt volltaktig mit "Pfundnoten", und führt schon in Takt drei das wichtige zweite Subjekt ein, in Takt zehn das ebenfalls wichtige Subjekt drei. Auf den ersten Blick wirkt Hachmeisters Fuge altertümlich, an Fugen des "Ricercar-Typs" erinnernd. Inhaltlich ist sie jedoch das überhaupt nicht, auch Hachmeister war mit allen "Wassern des 18. Jahrhunderts" gewaschen. Im gegebsatz zu Bach macht Hachmeister ausgiebig Gebrauch von Fugentechniken wie Engführung, Umkehrung uvam, was bei einer Fuge mit mehreren Subjekten auch nicht verwunderlich ist.

Ein weiterer Hinweis auf Hachmeisters Kenntnis des Wohltemperierten Claviers (hier Teil 2) ist von den Takten 110 bis 115 zu beobachten. Hier führt Hachmeister im Bass das Subjekt 2 "inverso" ein, in Takt 111 "recto" im Discant. In Takt 113 werden "recto" und "inverso" akkordisch gemeinsam gebracht, alles in b-moll. Wer fühlt sich da nicht an das WTC 2. Teil, Fuge in b-moll, Takte 96 bis 100 erinnert? Dort geschieht nämlich sehr Ähnliches, auch in b-moll.

Mit den 50 Variationen wird eine anderes Kompositionsfeld betreten. Ein 16-taktiges, schönes, aber zeitübliches Menuett in a-moll wird variiert. Gerber, sowie Marpurg äussern sich lobend über dieses Werk. Viele Variationswerke aus dieser Zeit wurden hauptsächlich für Clavierschüler geschrieben mit dem Ziel, deren Fingerfertigkeiten, Interpretationsfähigkeiten zu üben. Etliche Variationen Hachmeisters verfolgen eindeutig dieses Ziel. Auffällig ist jedoch, dass Hachmeister bei seinen Schülern einen recht hohen spieltechnischen, interpretatorischen Standard erreichen will. Hierfür greift er auf Spieltechniken zu, die er möglicherweise aus den "Goldberg Variationen" Bachs gelernt haben könnte. Hinweise dafür, dass Hachmeister auch dieses Bachwerk gekannt hat sind vorhanden: der sehr ähnliche Titel "Clavierübung bestehend in...", aber auch die üppig gestalteten Vignetten des Titelblatts sind auffällige Merkmale. Den Spieler erwarten dann, wie bei Bach, geballte Akkordketten, überschlagende Hände, Triller mit zusätzlich zu spielenden Tönen, sehr unabhängige und schwierige Basspassagen, ein zweimanualiges Cembalo durch häufige Angaben von "forte" und "piano". Polyphonie setzt Hachmeister auch ein in Form von "Duetten" und kanonischen Passagen. Fast alle Variationen sind mit Tempoangaben versehen, ein weiterer Hinweis auf die didaktischen Absichten des Komponisten.